Armut von A-Z

In der Schweiz wird seit einigen Jahren die sogenannte aktivierende Arbeitsmarktpolitik verfolgt: Bei der Arbeitslosenversicherung, der Invalidenversicherung und in der Sozialhilfe haben Betroffene kein vorbehaltloses Recht auf Leistungen. Sie müssen eine Gegenleistung erbringen und sich aktiv um ihre soziale und berufliche Integration bemühen. Oft werden Massnahmen in Form von Kursen zur Vermittlung spezifischer Kompetenzen angeboten, um die Teilhabe an der Gesellschaft zu fördern. Die Wirksamkeit und insbesondere die Nachhaltigkeit solcher Massnahmen sind allerdings schwer zu erfassen.
Caritas setzt sich dafür ein, dass die Integrationsprogramme zwingend auf Freiwilligkeit basieren müssen und eine individuelle und professionelle Betreuung gewährleistet sein muss.
Bei einer Trennung oder Scheidung hat der Elternteil, der die Verantwortung für die Betreuung von Kindern übernimmt, Anspruch auf Alimentenzahlungen. Doch kann sich sein Armutsrisiko deutlich erhöhen, wenn der unterstützungspflichtige Elternteil nicht über ein Einkommen über dem Existenzminimum verfügt und daher keine Alimente zahlen kann. Ersatzweise kann sich eine Alleinerziehende / ein Alleinerziehender von kantonalen Inkassostellen das Geld vorschiessen lassen, womit die Benachteiligung eines Alleinerziehendenhaushalts wirksam bekämpft werden kann.
Caritas fordert ein Gesetz über die Alimentenbevorschussung auf Bundesebene, das die Alleinerziehenden vom bürokratischen Aufwand befreit.
Die Alters- und Hinterlassenenversicherung AHV wurde als obligatorische Versicherung zur Altersvorsorge für die ganze Bevölkerung eingeführt. Sie ist beitragsfinanziert. Diese sogenannt erste Säule soll den Versicherten im Alter den Rückzug aus dem Erwerbsleben ermöglichen und verhindern, dass Hinterbliebene beim Tod des Ehepartners oder eines Elternteils in finanzielle Not geraten.
Die AHV-Rente berechnet sich nach den Beiträgen gemäss Einkommen und der Anzahl Beitragsjahre. Besser Verdienende zahlen höhere Beiträge, ihre AHV-Rente ist aber maximal doppelt so hoch wie die Mindestrente. Dadurch findet eine Umverteilung von den wirtschaftlich Stärkeren zu den wirtschaftlich Schwächeren statt: Personen mit kleinen Einkommen respektive nicht- oder teilzeitarbeitende Personen werden begünstigt. Rentnerinnen und Rentner, die trotz AHV kein existenzsicherndes Einkommen haben die Möglichkeit, Ergänzungsleistungen (EL) zu beziehen.
Die Arbeitslosenversicherung ALV ist die obligatorische Versicherung für Erwerbspersonen, welche vor Lohnausfällen bei Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Arbeitsausfällen oder Insolvenz des Arbeitgebenden schützt. Sie deckt Lohnausfälle in der Höhe von 70 respektive 80 Prozent des vorherigen Verdienstes und wird je zur Hälfte von den Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden finanziert. Die ALV sieht ausserdem arbeitsmarktliche Massnahmen mit Kursen, Ausbildungszuschüssen und Beschäftigungsprogrammen vor.
Um Arbeitslosenentschädigung zu erhalten, müssen sich die Versicherten bei der Regionalen Arbeitsvermittlung (RAV) melden. Voraussetzung ist, dass die betroffene Person innerhalb der letzten zwei Jahre (Rahmenfrist) mindestens zwölf Monate ALV-Beiträge bezahlt hat. Weiter wird die Vermittlungsfähigkeit geprüft. Als vermittlungsfähig gilt, wer eine zumutbare Arbeit annehmen und an Integrationsmassnahmen teilnehmen kann. ALV-Beziehende sind verpflichtet, eine zumutbare Arbeit zu suchen und die Bemühungen bei regelmässigen Besuchen beim RAV vorzuweisen.
In der Schweiz gibt es zwei Definitionen für Personen ohne Erwerbsarbeit: (1) Erwerbslose sind Personen im Alter von 15-74 Jahren, die nicht erwerbstätig sind, aktiv eine Arbeit suchen und unmittelbar mit einer Tätigkeit beginnen könnten. (2) Das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO spricht nur dann von Arbeitslosen, wenn sie bei einem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) gemeldet sind. Somit erfasst das SECO in ihren Statistiken nur die registrierten Arbeitslosen.
Als Faustregel gilt: Die tatsächliche Arbeitslosigkeit in der Schweiz ist mindestens doppelt so hoch wie die vom SECO ausgewiesene. Die Arbeitslosenquote beziffert das Verhältnis der arbeitslosen Personen zur erwerbstätigen Bevölkerung, sie betrug im Jahr 2017 3,2 Prozent.
Beim Armutsbegriff wird zwischen relativer und absoluter Armut unterschieden:
Relative Armut steht im Kontext der Wohlstandsverteilung in einem Land. Als relativ arm gilt, wer im Vergleich zu den Anderen in einem Land ein eingeschränktes Leben führen muss. Dieses Armutskonzept orientiert sich am Einkommen des Haushalts.
Absolut arm hingegen ist, wer unter dem materiellen Existenzminimum lebt und das physische Überleben nicht sichern kann. Diese Personen leiden an Hunger, haben kein Obdach, kein Geld für die zur Lebenshaltung notwendigen Güter wie Kleidung und können nicht für ihre Gesundheitspflege sorgen. In der Schweiz spricht man selten von absoluter Armut. Vielmehr wird Armut soziokulturell definiert, das heisst, arm ist, wer seinen täglichen Bedarf nicht decken und an der Gesellschaft nicht teilhaben kann. Zusätzlich zur finanziellen Lage werden also auch andere zentrale Lebensbereiche wie Arbeit, Bildung, Wohnen, Gesundheit, soziale Kontakte und Freizeit berücksichtigt. Die Rede ist dann vom sozialen Existenzminimum.
Im Verständnis von Caritas hat Armut drei Dimensionen:
Bedarfsleistungen sind Sozialleistungen, welche an Personen, die nahe am Existenzminimum leben, als Ergänzung zum verfügbaren Einkommen ausbezahlt werden. Damit soll verhindert werden, dass Haushalte von der Sozialhilfe abhängig werden. Sie decken einen spezifischen Bedarf, setzen individuelle Abklärungen voraus und müssen in der Regel schriftlich und unter Offenlegung der persönlichen Situation beantragt werden. Die Beiträge werden vom Kanton festgelegt und finanziert und unterscheiden sich erheblich von Kanton zu Kanton. Beispiele für Bedarfsleistungen sind Ergänzungsleistung der AHV und IV, Alimentenbevorschussung oder Wohnbeihilfen. Reichen die spezifischen bedarfsabhängigen Leistungen nicht aus, um die Existenz zu sichern, kommt die Sozialhilfe, ebenfalls bedarfsabhängig, zum Tragen.
Die Berufliche Vorsorge ist eine beitragsfinanzierte Versicherung und zielt auf die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung im Rentenalter, beim Tod des Versorgers und bei Invalidität. Sie bildet die zweite Säule im schweizerischen Vorsorgesystem. Alle Erwerbstätigen ab 17 Jahren leisten ab einem Jahreseinkommen von rund Fr. 21'150 obligatorisch Beiträge an eine Pensionskasse; diese werden je zur Hälfte von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite übernommen. Die BV-Leistungen bemessen sich an den einbezahlten Beiträgen jeder einzelnen Person. Die BV richtet sich in erster Linie an Gutverdienende und ist für die Armutsbekämpfung darum nicht relevant.
Das BSV hat die Aufsicht über alle Sozialversicherungen und kontrolliert ihre Entwicklung und Umsetzung: AHV, Invalidenversicherung, Ergänzungsleistungen, berufliche Vorsorge (Pensionskassen), Erwerbsersatzordnung sowie Familienzulagen. Das BSV ist ausserdem zuständig für die Organisation und Durchführung des «Nationalen Programms zur Prävention und Bekämpfung von Armut», welches in Zusammenarbeit mit Kantonen, Städten, Gemeinden und privaten Organisationen noch bis 2018 läuft.
Care-Arbeit meint die unbezahlte Betreuung von Kindern und pflegebedürftiger oder kranker Erwachsener. Der Bereich der Familie gilt in der Schweiz nach wie vor als Privatsache, weshalb insbesondere die mit der unbezahlten Care-Arbeit verbundenen Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt bis anhin nicht beseitigt werden konnten.
Die Übernahme von unbezahlter Betreuungs- und Pflegearbeit ist eine Armutsfalle, beispielsweise wenn eine alleinerziehende Mutter aufgrund der Kinderbetreuung nur zu einem kleinen Pensum erwerbstätig sein kann. Frauen leisten noch immer den grössten Teil der unbezahlten Care-Arbeit. Bezahlte Care-Arbeit muss aufgewertet und adäquat entlohnt werden. Um die damit verbundenen finanziellen Nachteile zu beheben, muss die Betreuungs- und Pflegearbeit durch neue Finanzierungsmodelle und hinreichende soziale Absicherung aufgewertet werden. Zudem ist die Umverteilung der Care-Arbeit zwischen den Geschlechtern durch flexible Arbeitsbedingungen und Teilzeitarbeit auch für Männer zu fördern.
Im Caritas-Markt können Armutsbetroffene Lebensmittel und Produkte des täglichen Bedarfs zu Tiefstpreisen einkaufen. Ein Teil der Artikel wird durch Warenspenden und Unterstützungsbeiträgen aus der Wirtschaft finanziert. Die Preisreduktion beträgt durchschnittlich 40 Prozent. Durch diese Einsparungen erhalten Armutsbetroffene mehr finanziellen Spielraum.
Es gibt aktuell 21 Caritas-Märkte, die alle ein breites und konstantes Sortiment anbieten. Die Läden befinden sich in Baar, Basel, Bern, Chur, Genf, La Chaux-de-Fonds, Lausanne, Luzern, Neuenburg, Olten, Sursee, St. Gallen, Thun, Vevey, Wil, Winterthur, Yverdon, Zürich sowie mobil im Kanton Waadt. Im Rahmen der Kampagne «Armut halbieren» hat sich die Caritas zum Ziel gesetzt, bis 2020 insgesamt 30 Märkte zu betreiben und damit armutsbetroffene Menschen zu unterstützen.
Der demographische Wandel wird vielfach mit der steigenden Zahl von älteren und vor allem hoch betagten Menschen in Verbindung gebracht. Tatsächlich stehen wir dank einer immer noch zunehmenden Lebenserwartung im Übergang von einer Drei- zu einer Vier- oder gar Fünfgenerationengesellschaft. Allerdings ist dieser demographische Wandel ebenso durch eine Abnahme der jüngeren, erwerbstätigen Bevölkerung geprägt. Diese Entwicklung kann seit geraumer Zeit verfolgt werden. Sie ist auch durch eine verstärkte Zuwanderung nicht zu kompensieren. Das stellt Politik und Gesellschaft vor neue Herausforderungen. So stellt sich die Frage, wie zukünftig die AHV-Renten gesichert und der steigende Pflege- und Betreuungsbedarf der betagten Menschen gedeckt werden können.
Grundsätzlich wird bei der Diskussion um Einkommen stets vom Einkommen eines ganzen Haushalts ausgegangen (Haushaltseinkommen). Für statistische Erhebungen und Analysen wird zwischen diversen Einkommenstypen unterschieden:
Die Ergänzungsleistungen garantieren AHV- und IV-Rentnerinnen und Rentnern das soziale Existenzminimum. Sie sind bedarfsabhängig und werden ausbezahlt, wenn die AHV- oder IV-Beiträge zur Deckung der Lebenskosten nicht ausreichen. Dies gilt speziell für ehemalige Working Poor und Personen, die nur teilweise oder gar nicht berufstätig waren, beispielsweise aufgrund unbezahlter Betreuungsarbeit. Die EL werden ausschliesslich durch die öffentliche Hand finanziert, die Kosten werden hauptsächlich von den Kantonen und Gemeinden getragen.
Ende 2016 bezogen in der Schweiz insgesamt 318‘600 Personen Ergänzungsleistungen, darunter über 16 Prozent aller Altersrentnerinnen und -rentner. Auf die EL besteht ein rechtlicher Anspruch, sie müssen jedoch schriftlich und unter Offenlegung der finanziellen Situation des Haushalts beantragt werden. 2016 betrug der durchschnittliche EL-Betrag für zuhause lebende Alleinstehende 1100 Franken. Um der Familienarmut entgegen zu wirken, haben einzelne Kantone zusätzlich Ergänzungsleistungen für Familien eingeführt und damit gute Erfahrungen gemacht. Das Anliegen, auf eidgenössischer Ebene Familienergänzungsleistungen einzuführen, wurde vom Parlament 2013 nach erneuter Prüfung abgelehnt.
Die Erwerbsersatzordnung deckt einen Teil des Lohnausfalls für Militär-, Zivildienst und Zivilschutz leistender Personen ab. Die Höhe der Entschädigung beträgt 80 Prozent des vordienstlichen Einkommens. Die ebenfalls in der EO integrierte Mutterschaftsversicherung zahlt bei Mutterschaft während 14 Wochen eine Entschädigung. Diese beträgt 80 Prozent des durchschnittlichen Bruttoeinkommens vor der Geburt, höchstens jedoch 196 Franken pro Tag. Die EO berücksichtigt zudem Personen, welche vorher nicht im Berufsleben standen.
Die Familienzulagen umfassen Kinder- und Ausbildungszulagen, mancherorts zudem Geburtszulagen, Erziehungsgelder und Krippenbeiträge. Sie stehen allen Arbeitnehmenden, teilweise auch Selbständigerwerbenden sowie Nichterwerbstätigen mit bescheidenem Einkommen zu. Sie gleichen die finanzielle Belastung durch Kinder aus und werden fast vollumfänglich durch Arbeitgeberbeiträge finanziert. Kinderzulagen umfassen einen national geregelten Mindestbeitrag von 200 Franken pro Monat für Kinder bis zum 16. Lebensjahr, die Ausbildungszulagen belaufen sich auf mindestens 250 Franken pro Monat für Kinder in Ausbildung bis zum 25. Lebensjahr. Familienzulagen sind ein Instrument zur Prävention von Familienarmut.
Individuelle Prämienverbilligung (IPV)
Die Individuelle Prämienverbilligung wurde eingeführt, um die finanzielle Belastung durch Krankenkassenprämien für Versicherte aus bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen zu reduzieren. Sowohl zwischen den kantonalen Prämienverbilligungssystemen als auch in der Höhe der verbleibenden Nettoprämien gibt es grosse Unterschiede zwischen den Kantonen.
Die Individuelle Prämienverbilligung schützt die sozial schwache Bevölkerung noch ungenügend vor Armut. Caritas fordert deshalb eine maximale Prämienbelastung von 8 Prozent des steuerbaren Einkommens. Nebst den Sozialhilfebeziehenden, denen die Prämien erlassen werden, sollten auch Familien und Einzelpersonen, die ohne Sozialhilfe knapp am Existenzminimum leben, von den Krankenkassenprämien befreit werden.
Der staatlichen Sozialhilfe liegt ein Integrationskonzept zugrunde, das die Integration auf zwei verschiedenen Achsen misst: die berufliche und die soziale Integration.
Berufliche Integration: Dies meint, Menschen in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Zwingende Voraussetzung für Massnahmen zur Arbeitsintegration ist aus Sicht der Caritas die Freiwilligkeit der Teilnahme. Integrative Auflagen und Arbeitsvermittlung müssen sich an der individuellen Situation und Motivation von Armutsbetroffenen ausrichten und von Zwang und Sanktionen absehen.
Soziale Integration: Soziale Existenzsicherung setzt voraus, dass eine minimale Teilhabe an der Gesellschaft gewährleistet ist, konkret: dass der Zugang zu den verschiedenen Teilsystemen (Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Gesundheitswesen, Sozialstaat, Wohnwesen, Kultur) gegeben ist und individuelle Handlungsperspektiven vorhanden sind. Im Mittelpunkt integrativer Massnahmen stehen darum die Förderung der sozialen Kontakte zu den Mitmenschen und die Bekämpfung der sozialen Isolation.
Die Invalidenversicherung ist für die gesamte Wohnbevölkerung obligatorisch und unterstützt Personen mit dauerhaften, körperlichen, psychischen oder geistigen gesundheitlichen Einschränkungen. Für teilweise oder ganz erwerbsunfähige Betroffene richtet die IV eine (Teil-)Rente zur Existenzsicherung aus. Mittels Eingliederungsmassnahmen will sie aber in erster Linie invaliden Versicherten ermöglichen, sich im Erwerbsleben zu integrieren, ihre Existenzgrundlage ganz oder teilweise selbständig zu sichern und ein grösstmögliches Mass an Unabhängigkeit zu erreichen. Neben medizinischen Massnahmen sieht das IV-Gesetz Schulungs- und Umschulungsmassnahmen, die Abgabe von Hilfsmitteln oder spezifische Arbeitsvermittlung vor.
Die Krankenversicherung gewährt Versicherten Zugang zu einer guten medizinischen Versorgung. Die Grundversicherung ist für die gesamte Wohnbevölkerung obligatorisch und stellt die medizinische Behandlung bei Krankheit oder Unfall sicher. Darüber hinaus gibt es freiwillige Zusatzversicherungen, die sich je nach Anbieter unterscheiden. Je nach Versicherungsmodell werden Personen bei gesundheitlich bedingtem Erwerbsausfall Taggelder ausbezahlt.
Der Lebenslagenansatz geht davon aus, dass die Lebensqualität einer Person mehrere sich gegenseitig beeinflussende Lebensbereiche umfasst. Dazu gehören neben finanziellen Ressourcen wie dem Einkommen zum Beispiel Berufsleben, Gesundheit, Bildung, Wohnverhältnisse oder soziale Integration als Chancen zur Beteiligung am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Zur Bekämpfung von Armut ist es wichtig, diese Mehrdimensionalität der Lebenslage zu berücksichtigen. Ist die Versorgung in einem oder mehreren Bereichen ungenügend, wird von Deprivation gesprochen und die Lebenslage als prekär eingestuft.
Die Theorie der Armut im Lebenslauf geht davon aus, dass das Armutsrisiko in bestimmten Phasen des Lebens am grössten ist. Es handelt sich um Zeitabschnitte, in welchen die Erwerbstätigkeit eines Haushaltes eingeschränkt ist, zum Beispiel bei der Geburt eines Kindes oder dem hohen Alter eines Haushaltsmitglieds. Oder es handelt sich um Phasen, in denen zusätzliche Ressourcen nötig sind, wie bei der Gründung eines neuen Haushalts oder beim Beginn einer Ausbildung. Diese kritischen Momente existieren grundsätzlich für alle Menschen, der Handlungsspielraum für Haushalte mit geringem Einkommen ist dabei aber wesentlich kleiner. Das Modell, das auf Untersuchungen der englischen Arbeiterklasse Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeht, wird heute um zusätzliche kritische Übergangsmomente wie jener von der Schule in die Lehre und von der Lehre ins Berufsleben erweitert. Auch eine Trennung oder Scheidung ist ein immer häufiger auftretender Bruch, der ein erhöhtes Armutsrisiko bedeutet. Wirksame Armutspolitik muss diese ungesicherten Lebenslagen berücksichtigen und Betroffene zusätzlich stärken.
Materielle Entbehrung ist ein Ansatz, um Armut zu erfassen. Von materieller Entbehrung sind Personen betroffen, aus finanziellen Gründen auf wesentlichen Lebensbedingungen, Gebrauchsgüter und Dienstleistungen verzichten müssen, welche von der Mehrheit der Bevölkerung als wesentlich erachtet werden. In der Schweiz wird materielle Entbehrung nach neun Punkten beurteilt: (1) unerwartete Ausgaben von 2500 Franken tätigen können, (2) sich einen einwöchigen Jahresurlaub an einem anderen Ort leisten können, (3) sich jeden zweiten Tag eine Fleisch-, Geflügel- oder Fischmahlzeit leisten können, (4) über eine angemessene Beheizung in der Wohnung verfügen, (5) eine Waschmaschine besitzen, (6) einen Farbfernseher besitzen, (7) ein Telefon besitzen, (8) ein Auto besitzen und (9) keine Zahlungsrückstände aufweisen. Sind mindestens drei der neun Indikatoren nicht erfüllt, wird von materieller Entbehrung gesprochen. 2016 waren in der Schweiz 5,3 Prozent der Bevölkerung davon betroffen.
Artikel 12 der Bundesverfassung garantiert jedem Menschen in der Schweiz, der sich in einer Notlage befindet und sich nicht selbst helfen kann, «Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind». Dieses Recht ist einklagbar und gilt auch bei eigenem Verschulden der Notlage. Ein Bundesgerichtsentscheid definiert, dass darunter die zum Überleben unerlässlichen Mittel in Form von Nahrung, Obdach und medizinischer Grundversorgung zu verstehen sind.
Das Zahl aller von Armut betroffenen Menschen in der Schweiz entspricht der Summe der erfassten Armutsbetroffenen und der verdeckten Armen. Die Nichtbezugsquote oder Dunkelziffer der Armut ergibt sich aus der Zahl jener Armutsbetroffenen, welche zwar Anrecht auf Leistungen des Sozialstaates hätten, dieses jedoch nicht nutzen, im Verhältnis zur Gesamtsumme. Über die Gründe des Nichtbezugs ist wenig bekannt, verschiedene Faktoren dürften eine Rolle spielen: (1) Die Hemmschwelle, Hilfe von staatlicher Seite zu beziehen, ist relativ hoch. Besonders in ländlichen Regionen, wo weniger Anonymität herrscht, ist die stigmatisierende Wirkung von Bedarfsleistungen nach wie vor stark spürbar. Viele der Betroffenen hoffen, dass es sich in ihrem Fall um eine vorübergehende Notlage handelt, welche selbst gemeistert werden kann. (2) Weiter halten der administrative Aufwand und die mit der Bedürfnisprüfung verbundene Befragung zur persönlichen Situation Menschen vom Gang zum Sozialamt ab. (3) Für viele Migrantinnen und Migranten ist die Angst vor einer Ausweisung ein wichtiger Grund, nicht zum Sozialamt zu gehen.
In der Schweiz gibt es nur wenige Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, doch steigt die Zahl von Personen, die ihre Wohnung verlieren und danach ohne festen Wohnsitz leben müssen. Gründe können der Verlust der Arbeitsstelle, familiäre Brüche, psychische Beeinträchtigungen oder Suchtprobleme sein. Es gibt heute vielfältige Auffangnetzte wie Frauenhäuser und Notunterkünfte, welche Obdachlose vorübergehend aufnehmen können.
Prekarität bezeichnet eine schwierige oder eine von Unsicherheit geprägte Lebenssituation. Menschen in prekären Verhältnissen sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, umgekehrt sind die Lebenslagen Armutsbetroffener von Prekarität gekennzeichnet, was eine Überwindung der Armut beinahe verunmöglicht.
Die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) sind staatliche Dienststellen, welche Arbeitssuchende bei der Stellensuche unterstützen. Sie sind einerseits in der Stellenvermittlung tätig, andererseits setzen sie sich mit diversen Unterstützungsangeboten für eine rasche Wiedereingliederung der Stellensuchenden in den Arbeitsmarkt ein. Die Arbeitslosen müssen regelmässig belegen, dass sie sich aktiv um eine neue Erwerbstätigkeit bemühen. Lohnentschädigungen werden von einer separaten Stelle, der Arbeitslosenkasse, welche der Arbeitslosenversicherung angegliedert ist, ausbezahlt.
Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS erarbeitete aufgrund fehlender nationaler Rahmengesetze Richtlinien und Arbeitsinstrumente für die Praxis der Sozialhilfe mit dem Ziel, diese zu vereinheitlichen. Es handelt sich dabei allerdings um unverbindliche Empfehlungen. Die SKOS setzt sich aus Vertreterinnen und Vertretern von Gemeinden, Kantonen, vom Bund sowie aus privaten Organisationen aus dem Sozialbereich zusammen. Das gemäss den SKOS-Richtlinien definierte Existenzminimum soll einerseits die materielle Existenz sichern und andererseits die soziale und berufliche Integration fördern. Die Richtlinien bestimmen die Armutsgrenze der Schweiz.
Soziale Mobilität beschreibt die Möglichkeit, in einer Gesellschaft auf- oder abzusteigen. In der Schweiz ist die soziale Mobilität gering. Die beiden Hauptindikatoren für die Zugehörigkeit einer sozialen Schicht sind Bildung und berufliche Stellung. Generell gilt: Je besser die Bildung der Eltern, desto besser die Bildung der Kinder. Kinder von Eltern mit tertiärem Bildungsabschluss begeben sich mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln ebenfalls auf akademische Wege. Hingegen absolvieren nur gerade 7,5 Prozent der Schweizer Kinder aus bildungsfernem Elternhaus selbst eine höhere Ausbildung. Echte Chancengleichheit setzt voraus, dass Kinder aus unteren Schichten die gleichen Perspektiven und Verwirklichungschancen haben wie Kinder aus mittleren und oberen Schichten.
Caritas fordert deshalb Bildungsangebote für alle, einen einfachen Zugang zu kostengünstiger, qualitativ hochwertige Bildung und Angebote der Frühen Förderung für alle Kinder. Insbesondere ältere Menschen und Niedrigqualifizierte sollen ein Recht auf Weiterbildung haben, und die Anerkennung von ausländischen Diplomen und von Kompetenzen, die ausserhalb des formalen Bildungswegs erworben wurden, muss zwingend gewährleistet sein.
Das Netz der sozialen Sicherheit dient der Bevölkerung als Schutz vor Armutsrisiken. Es besteht aus staatlichen Sozialversicherungen, kantonalen Sozialtransfers und kommunaler Sozialhilfe, die mit ihren Leistungen die Existenzsicherung gewährleisten. Die erste Sicherungsstufe sind die Sozialversicherungen wie die AHV und IV. Sie schützen die Bevölkerung oder zumindest Teile davon gegen spezifische, gesellschaftlich anerkannte soziale Risiken. Die zweite Stufe bilden die kantonalen Sozialtransfers. Beispiele dafür sind Ergänzungsleistungen oder individuelle Prämienverbilligungen für die Krankenversicherung. Dabei handelt es sich um bedarfsabhängige Leistungen. Das letzte Netz der sozialen Sicherheit ist die in den meisten Fällen kommunal organisierte Sozialhilfe.
Die intergenerationelle soziale Mobilität meint die Chancen eines Kindes zum Aufstieg in eine höhere soziale Schicht als dessen Eltern und die Risiken eines solchen Abstiegs. Verschiedene neue Studien analysieren die Auswirkungen der beiden Hauptindikatoren für soziale Schicht: Bildung und berufliche Stellung. Generell gilt: Je besser die Bildung der Eltern, desto besser die Bildung der Kinder. Kinder von Eltern mit tertiärem Bildungsabschluss begeben sich mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln ebenfalls auf akademische Wege. Nur gerade 7,5 Prozent der Schweizer Kinder aus bildungsfernem Elternhaus geniessen selbst eine höhere Ausbildung. Echte Chancengleichheit würde voraussetzen, dass Kinder der unteren Schichten grössere Aufstiegschancen haben als Kinder von mittleren und oberen Schichten, um so ihre benachteiligten Ausgangslage zu kompensieren und den Rückstand aufzuholen. Dem ist nicht so.
Das Netz der sozialen Sicherheit besteht aus staatlichen Sozialversicherungen, kantonalen Sozialtransfersund kommunaler Sozialhilfe. Die erste Sicherungsstufe sind die Sozialversicherungen. Die alle schützen die Bevölkerung oder zumindest Teile davon, gegen spezifisch, gesellschaftlich anerkannte soziale Risiken. Die zweite Stufe bilden die kantonalen Sozialtransfers. Diese können nicht mehr einem Risiko zugeordnet werden, sondern sie schützen bestimmte Bevölkerungsgruppen vor zu tiefem Einkommen. Das letzte Netz der sozialen Sicherheit ist die in den meisten Fällen kommunal organisierte Sozialhilfe.
Eine Sozialfirma ist gemäss der ASSOF (Arbeitsgemeinschaft Schweizer Sozialfirmen) ein Unternehmen, das zwei Unternehmensziele verfolgt: Arbeitsintegration und gleichzeitig Produktion marktfähiger Güter und Dienstleistungen. Die berufliche Integration von Personen, die auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind, steht dabei im Vordergrund. Gesundheitlich Angeschlagenen und Langzeitarbeitslosen bietet dies eine Chance zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Schwer vermittelbare Personen wird eine dauerhafte Beschäftigung geboten mit einer Tagesstruktur und einem Lohn. Die Angestellten werden betreut und gefördert. Um wettbewerbsfähig zu sein, ist die Sozialfirma auf einen finanziellen Ausgleich der verminderten Leistungsfähigkeit der Angestellten und der höheren Personalaufwände angewiesen, welche durch Beiträge des Bundes ausgeglichen werden. Allfällige Gewinne müssen ins Unternehmen reinvestiert werden.
Die Sozialhilfe ist als letztes Auffangnetz im System der sozialen Sicherheit konzipiert. Sie bietet bedarfsabhängige Unterstützungs-, Beratungs- und Betreuungsleistungen zur Existenzsicherung, wenn diese weder durch die Sozialversicherungen noch durch kantonale Bedarfsleistungen gedeckt wird. Die Sozialhilfe ist als vorübergehende Hilfe bei Notlagen gedacht und wird gemäss der konkreten individuellen Situation ausgerichtet. Immer mehr Menschen sind heute aber auf eine dauerhafte Unterstützung durch die Sozialhilfe angewiesen. Bereits ist die Rede von Sozialhilferenten.
Wer in Not gerät, kann Sozialhilfe je nach Organisationstruktur beim Sozialamt, der Gemeindeverwaltung oder der Sozialbehörde beantragen. In grösseren Gemeinden mit professionalisierten Sozialdiensten wird das Sozialamt angefragt, worauf eine Abklärung folgt. Die individuellen Leistungen der Sozialhilfe sollen die wirtschaftliche und persönliche Selbständigkeit fördern und die Integration begünstigen. Die finanziellen Unterstützungen dienen der materiellen Grundsicherung und werden in Form von Geldleistungen, Sachleistungen oder Kostengutsprachen ausgerichtet. Die Höhe des Bedarfs wird meistens anhand der SKOS-Richtlinien bestimmt, unterscheidet sich aber von Kanton zu Kanton, da das Sozialhilferecht kantonal geregelt ist. Im Durchschnitt betrug dieser Richtwert im Jahr 2013 für eine Einzelperson 986 Franken. Dazu kommen Beiträge für die (ortsüblichen) Wohnkosten inkl. Nebenkosten sowie für die medizinische Grundversorgung, wie Krankenkassenprämien plus Franchisen und Selbstbehalt.
Mangelhafte Bildung ist einer der zentralen Armutsrisikofaktoren. Viele Eltern verfügen nicht über das nötige Einkommen, um eine weiterführende Ausbildung ihrer Kinder finanzieren zu können. Für diesen Fall besteht in der ganzen Schweiz die Möglichkeit, beim jeweiligen Wohnkanton Stipendien in Form einmaliger oder wiederkehrender Ausbildungsbeiträge zu beantragen. Die Kantone verfügen über eigene Stipendiengesetze, welche die Bedingungen und Leistungsmodi festlegen. Die Höhe der Leistungen ist je nach Kanton unterschiedlich, politische Vorstösse für eine Harmonisierung sind bis anhin gescheitert.
Für Caritas stellt der Ansatz «Stipendien statt Sozialhilfe» (gemäss Waadtländer Modell) die richtigen Weichen, um junge Erwachsene aus bildungsfernen und wirtschaftlich schwachen Familien dauerhaft vor Sozialhilfeabhängigkeit zu bewahren.
Die Unfallversicherung ist eine Personenversicherung, welche vor den wirtschaftlichen Folgen von Berufsunfällen, Nichtberufsunfällen und Berufskrankheiten schützt. Alle Angestellten in der Schweiz sind durch ihren Arbeitgeber obligatorisch gegen Betriebsunfälle und Betriebskrankheiten versichert. Wer mindestens acht Stunden pro Woche in einem Betrieb arbeitet, ist zusätzlich gegen Nichtbetriebsunfälle, die sich zu Hause oder in der Freizeit ereignen, versichert. Die weitaus wichtigste Unfallversicherung ist die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA). Sie übernimmt die Heilungskosten, deckt den Lohn für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit und zahlt Invaliden- und Hinterlassenenrenten aus. Die SUVA betreibt ausserdem Unfallprävention und fördert die gezielte Rehabilitation.
Working Poor sind Personen, die trotz Erwerbstätigkeit kein existenzsicherndes Einkommen erzielen. In der Schweiz gibt es rund 140‘000 Working Poor. Das ist fast ein Viertel der insgesamt 615'000 Armutsbetroffenen (2015). Besonders von Tieflöhnen bedroht sind Erwerbstätige ohne nachobligatorische Ausbildung, Alleinerziehende, nicht ganzjährig Erwerbstätige sowie Personen, die im Gastgewerbe arbeiten.
Der «zweite Arbeitsmarkt» meint in der Regel alle staatlich subventionierten Arbeitsverhältnisse. Darunter fallen auch Sozialfirmen, welche den Betroffenen eine langfristige, individuell als sinnvoll erachtete Erwerbsarbeit anbieten und den Anschluss an den ersten Arbeitsmarkt ermöglichen sollen. Gleichzeitig sollen Langzeitarbeitslose Beschäftigungsmöglichkeiten erhalten, die für die Gesellschaft von zentralem Wert sind.