Verzicht auf Sozialhilfe aus Angst um Aufenthaltsstatus

Eine Studie bestätigt erstmals den Effekt der letzten Migrationsrechtsverschärfung

2019 wurde das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) reformiert. Seither können auch Menschen, die schon lange in der Schweiz leben und über eine Niederlassung verfügen, ihr Aufenthaltsrecht verlieren, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Was Caritas schon länger beobachtet, belegt nun eine Studie der Berner Fachhochschule (BFH): Aufgrund der Migrationsrechtsreform verzichten mehr Bedürftige auf Sozialhilfe.

Die Sozialhilfe ist das letzte Netz im System der sozialen Sicherheit. Sie soll «Hilfe in Notlagen» bieten, wie dies Artikel 12 der Bundesverfassung garantiert. Nun verzichtet aber ein erheblicher Teil der Menschen, die unterhalb des Existenzminimums leben, auf die ihnen zustehende Sozialhilfe. Die Gründe für diesen sogenannten Nichtbezug sind vielfältig und reichen von Scham, fehlenden Informationen und bürokratischen Hürden bis hin zu aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen. Problematisch ist dies vor allem, wenn Menschen über längere Zeit zu wenig zum Leben haben. Es wird beim Nötigsten gespart wie der Ernährung, dem Arztbesuch und oft folgen Schulden.

Es gibt kaum Zahlen zum Nichtbezug in der Schweiz. Erst seit kurzem sind Schätzungen für einzelne Kantone verfügbar. Gemäss Berechnung der Berner Fachhochschule (BFH) verzichten im Kanton Bern demnach 38 Prozent der Personen, die Anspruch auf Sozialhilfe hätten, auf diese Leistungen. Ähnlich hoch ist die Nichtbezugsquote in Basel-Landschaft mit 37 Prozent. Im Kanton Basel-Stadt ist der Anteil mit knapp 30 Prozent etwas tiefer. Dies wird unter anderem mit dem städtischen Kontext erklärt, wo der Sozialhilfebezug weniger negativ behaftet und der Zugang anonymer möglich ist.

Einfluss des Migrationsrechts auf den Nichtbezug von Sozialhilfe

Der Nichtbezug ist bei Menschen mit oder ohne Schweizer Pass ein verbreitetes Phänomen. Für Ausländerinnen und Ausländer kommen aber zusätzlich zu allen anderen Nichtbezugsgründen noch die aufenthaltsrechtlichen Risiken dazu. Der Einfluss des Migrationsrechts auf den Sozialhilfebezug wurde in den letzten Jahren laufend ausgeweitet. So wirkt sich ein Sozialhilfebezug beispielsweise negativ auf die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, den Wechsel in eine Niederlassungsbewilligung oder die Einbürgerung aus und kann einen Familiennachzug verhindern. Seit der Reform des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) von 2019 kann dies aber auch eine Herabstufung von einer Niederlassungsbewilligung auf eine Aufenthaltsbewilligung oder gar einen Entzug der Aufenthaltsbewilligung verursachen. Dies ist selbst dann möglich, wenn Personen bereits Jahrzehnte in der Schweiz leben. Daher erstaunt es nicht, dass Menschen ohne Schweizer Pass nicht nur ein erhöhtes Armutsrisiko aufweisen, sondern auch öfters trotz Bedarf auf Sozialhilfe verzichten.

Auswirkungen der AIG-Reform zeigen sich verzögert

In ihrer Studie in Basel-Stadt untersuchten Oliver Hümbelin, Nadine Elsener und Olivier Tim Lehmann von der Berner Fachhochschule, wie sich der Nichtbezug im Zeitverlauf entwickelte. Es zeigte sich, dass sich die Nichtbezugsquote zwischen 2016 und 2019 kaum verändert hatte. Die Anzahl Sozialhilfebeziehender wie auch die Anzahl Personen, die einen Anspruch auf Sozialhilfe hätten, gingen parallel zurück. Dies änderte sich im Jahre 2020, als die Sozialhilfequote weiter sank, jedoch deutlich mehr Bedürftige auf Sozialhilfe verzichteten. Der Ausbruch der Covid19-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen und Lohneinbussen können einen Teil dieser Veränderung erklären. Eine genauere Betrachtung der ausländischen Bevölkerung zeigt jedoch, dass der Nichtbezug bei einer Gruppe deutlich überproportional zugenommen hat. Es sind Menschen mit einer Niederlassungsbewilligung C, die aus sogenannten Drittstaaten (die nicht Teil der EU oder EFTA sind) kommen. Diese Personengruppe war von der AIG-Reform von 2019 besonders betroffen. Gemäss den Studienautoren handelt es sich dabei um einen verzögerten Einfluss eben dieser Reform. Damit konnte dieser Effekt erstmals wissenschaftlich nachgewiesen werden.

Keine Überraschung für Caritas

In den Beratungsstellen wurde Caritas die letzten Jahre sehr oft mit dem Thema konfrontiert und um Rat gefragt. Deshalb kommen die Ergebnisse nicht überraschend. Auch dass der Effekt erst später sichtbar wird, deckt sich mit den Beobachtungen der Caritas. Menschen, die zu uns in die Beratung kommen, erfahren oft erst über Bekannte von Gesetzesänderungen und den damit einhergehenden Risiken. Nicht selten haben diese Bekannten selbst bereits negative Erfahrungen mit den Verschärfungen gemacht, was die Verunsicherung noch erhöht. Vor diesem Hintergrund ist es gut möglich, dass der Nichtbezug bei Ausländerinnen und Ausländern auch nach 2020 weiter ansteigt, wenn noch mehr Erzählungen von Überprüfungen durch das Migrationsamt oder von Ausweisungs- und Rückstufungsandrohungen bekannt werden. So wird auch in der Studie empfohlen, die Entwicklung des Nichtbezugs weiter im Auge zu behalten.

Dass die Verknüpfung von Migrationsrecht und Sozialhilfe problematisch ist, wurde mittlerweile auch in der Politik erkannt. Das Parlament hat im Frühjahr der parlamentarischen Initiative «Armut ist kein Verbrechen» zugestimmt, die zumindest die Verschärfung von 2019 revidieren möchte. Menschen die länger als zehn Jahre in der Schweiz leben, sollen demnach nicht mehr aufgrund eines Sozialhilfebezugs ausgewiesen werden können. Wie wichtig die Umsetzung dieser parlamentarischen Initiative ist, zeigt die Studie der BFH: Denn Gesetzesverschärfungen, wie die AIG-Reform von 2019, haben nicht nur einen Einfluss auf die Menschen, die effektiv zurückgestuft oder ausgewiesen werden. Die damit geschaffene Drohkulisse verwehrt auch vielen anderen Menschen die dringend benötigte Unterstützung.

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Titelbild: © Severin Nowacki