Sehnsucht nach dem Leben vor dem Beben
Vor etwas mehr als einem halben Jahr bebte in Syrien und in der Türkei die Erde. Zehntausende Menschen verloren ihr Leben, über hunderttausend Menschen wurden verletzt. George und seine Familie hatten Glück im Unglück. Alle sind am Leben – aber ihre Wohnung ist seither unbewohnbar.
Durch den riesigen Riss im Esszimmer kann George S. den Himmel sehen. Grosse Verputzstücke fielen beim verheerenden Erdbeben im Februar 2023 von der Decke. Tragende Säulen sind zerstört, in der Küche liegen Wandfliesen auf dem Boden. Die Behörden haben die Wohnung als «unbewohnbar» kategorisiert.
Die erste Nacht verbrachte der 60-Jährige mit seiner Frau und den beiden Söhnen auf den Strassen Aleppos. Danach fanden sie Zuflucht in einer Kollektivunterkunft in einer Kirche. «Für unsere Kinder, die sieben und neun Jahre alt sind, war es besonders schwierig», erinnert sich George: wochenlang Massenlager statt vertrautem Zuhause, die Freunde in Notschlafstellen verstreut über die Stadt, alle Schulen geschlossen.
Wenn das Leben völlig aus dem Tritt gerät
Was solch ein verstörendes Erlebnis in Menschen auslöst, kann George aus beruflicher Erfahrung gut einordnen. Als Sozialarbeiter bei Caritas hat er mit Personen zu tun, die traumatisiert sind, sei es von Krieg und Flucht, von der bitteren Armut in Syrien oder dem Erdbeben. Alle Schicksale haben gemein, dass das Leben der Menschen völlig aus dem Tritt geraten ist.
In seinen Beratungsgesprächen hört George immer wieder, dass die Menschen auch materielle Unterstützung brauchen. So hat Caritas Syrien direkt nach dem Erdbeben Decken, Lebensmittel oder Matratzen verteilt. In der jetzigen Phase erhalten die Begünstigten eine gewisse Summe an Bargeld. Damit können sie kaufen, was sie brauchen, seien es Medikamente, Baumaterial, Spielzeug für die Kinder oder neue Küchenutensilien.
Wirtschaftliche Lage ist sehr angespannt
In so extremen und langanhaltenden Ausnahmesituationen ist es von grosser Bedeutung, selbst entscheiden zu können, was im Moment wichtig ist. «Meine Familie und ich kennen diesen Zustand aus eigener Erfahrung nur zu gut», seufzt George.
«Ich sehne mich so sehr nach unserem früheren Leben. Aber das gibt es nicht mehr.»Geroge s.
Immer wieder kommen düstere Gedanken auf. Der Familienvater weiss nicht, wie es weitergehen soll. Die Wohnung seiner Eltern ist zerstört, seine ebenfalls. «Schon vor dem Beben mussten wir genau rechnen, die Wirtschaftslage im Land ist sehr angespannt. Jetzt müssen wir entscheiden, ob wir ihre oder unsere Wohnung wieder bewohnbar machen. Beides geht nicht, zusätzlich zu den Kosten für die derzeitige Mietwohnung.» Die beste Ablenkung für George ist, neben der Arbeit viel Zeit mit der Familie zu verbringen.
«Gemeinsam können wir lachen, wir geben uns Halt. So spüre ich, dass mein Leben trotz allem einen Sinn hat.»George s.
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Titelbild: George S. in seiner Wohnung in Aleppo, die wegen des Erdbebens unbewohnbar ist. © Hasan Belal