In Tieflohnbranchen wie der Reinigung könnten Mindestlöhne zur Existenzsicherung der Arbeitnehmenden beitragen.
In Tieflohnbranchen wie der Reinigung könnten Mindestlöhne zur Existenzsicherung der Arbeitnehmenden beitragen.

Mindestlöhne in Kantonen und Städten sind gefährdet

«Working Poor» in der Schweiz  

Ein Erwerbseinkommen ist das wichtigste Mittel zur Existenzsicherung und damit die beste Armutsprävention. Dafür muss der Lohn aber tatsächlich existenzsichernd sein. Mindestlöhne tragen massgeblich dazu bei, die Einkommenssituation von Tieflohnbeziehenden zu verbessern. Mehrere kantonale und städtische Regelungen stehen aber zurzeit unter politischem Druck aus Bundesbern.

Besonders von Mindestlöhnen profitieren Erwerbstätige, die von Armut betroffen oder bedroht sind. Ihre Löhne sind oft zu tief, und aufgrund von unregelmässigen Pensen auch nicht verlässlich. Der Mitte Juni gefällte Entscheid des Nationalrats, vom Volk gutgeheissene Mindestlöhne in Kantonen und Städten zu verbieten, betrifft genau diese Personen und läuft der Armutsbekämpfung zuwider.

Von der Vorlage betroffen sind die Mindestlöhne in den Kantonen Genf und Neuenburg sowie diverse bereits vom Volk angenommene städtische Mindestlöhne wie etwa in der Stadt Zürich. Im Kanton Genf wurden dank der Einführung des Mindestlohns die Löhne von rund 20'000 Arbeitnehmenden erhöht. Auch im Kanton Neuenburg hatten vor Einführung des Mindestlohns rund 2700 Arbeitnehmende einen tieferen Lohn als in der Volksinitiative vorgesehen. In der Stadt Zürich verdienen rund 17'000 Personen weniger als 4'000 Franken für eine Vollzeitstelle, was von der angenommenen Initiative geändert werden will und momentan vor Gericht ausgefochten wird.

Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) hat in ihrer Stellungnahme im Rahmen der Vernehmlassung darauf hingewiesen, dass die Gesetzesänderung «mit hoher Wahrscheinlichkeit» zu tieferen Löhnen in den betroffenen Branchen führen würde. Sagt auch der Ständerat Ja zur Vorlage, hätte dies spürbare Konsequenzen für Zehntausende Haushalte.

Wie gross ist das Problem der Working Poor schweizweit?

Gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) waren im Jahr 2023 rund 176'000 Menschen (4,4 Prozent) trotz Erwerbsarbeit von Armut betroffen und lebten unterhalb der absoluten Armutsgrenze. Zählt man die von Armut bedrohten Personen dazu, waren 336'000 Erwerbstätige (8,3 Prozent) betroffen.

Von ihrem zu tiefen Einkommen hängt oft auch die Existenz weiterer Personen ab, insbesondere von Kindern. Das Ausmass ist gross: 315'000 Personen in der Schweiz lebten 2023 in einem armen Haushalt, obwohl mindestens eine Person darin erwerbstätig war. Nimmt man die Armutsgefährdungsgrenze als Referenz, waren es 789'000 Personen.

Ein Blick in die Statistik zeigt weitere wichtige Zusammenhänge zu den Working Poor in der Schweiz:

  • Die grosse Mehrheit der von Armut betroffenen oder bedrohten Personen, die nicht aufgrund von Alter, Krankheit oder Betreuungspflichten von einer Arbeit abgehalten werden, sind erwerbstätig.

In der armutsgefährdeten Bevölkerung, zu der 1,4 Millionen Menschen zählen, sind 336'000 Personen erwerbstätig. 323'000 sind Kinder und weitere 641'000 nicht erwerbstätig. Nur 38'000 Personen von ihnen sind erwerbslos, das heisst aktiv auf Stellensuche. Von den anderen sind knapp mehr als die Hälfte (363'000) Rentnerinnen und Rentner und rund 236'000 «übrige Nichterwerbstätige». Diese haben zum Beispiel Betreuungspflichten und können deswegen nicht arbeiten, sind aufgrund von gesundheitlichen Problemen nicht erwerbstätig oder befinden sich in Ausbildung. In der armutsbetroffenen Bevölkerung zeigt sich das gleiche Bild. Auch unsere Erfahrungen aus den Sozial- und Schuldenberatungen bestätigen das.

  • In Tieflohnbranchen und in atypischen Arbeitsverhältnissen ist die Armutsbetroffenheit besonders hoch.

Atypische Beschäftigungen wie Arbeit auf Abruf, befristete Verträge und bestimmte Selbstständigkeiten führen oft zu unzureichendem Einkommen. Besonders in Tieflohnbranchen wie dem Bau- oder Gastgewerbe ist das Armutsrisiko trotz Erwerbsarbeit erhöht.

Gemäss BFS besetzen 12,1 Prozent aller Arbeitnehmenden eine Tieflohnstelle. Ihr Bruttolohn beträgt weniger als 4'525 Franken für eine Vollzeitstelle. 62,1 Prozent davon waren Frauen. Ausländerinnen und Ausländer sind ebenfalls häufiger im Tieflohnbereich tätig.

  • Der Bildungsstand und die Familiensituation haben einen grossen Einfluss auf das Risiko, trotz Erwerbstätigkeit in Armut zu leben.

22,3 Prozent der Personen mit obligatorischer Schulbildung sind trotz Erwerbsarbeit von Armut betroffen oder bedroht. Mit einem Abschluss auf Sekundarstufe II sinkt das Risiko deutlich auf 8,6 Prozent, bei tertiärem Abschluss auf 5,3 Prozent. Bildung ist damit ein wichtiger Schutzfaktor. Einelternhaushalte und Familien mit mehreren oder jungen Kindern haben ebenfalls ein erhöhtes Risiko: 16,3 Prozent der Einelternhaushalte sind trotz Erwerbsarbeit von Armut betroffen oder bedroht, die Quote bei Paaren mit drei oder mehr Kindern liegt sogar bei 19,6 Prozent. Im Vergleich dazu sind Paare ohne Kinder mit nur 4,3 Prozent deutlich weniger betroffen.

Die Caritas empfiehlt dem nationalen Parlament deshalb, den Kantonen und Gemeinden weiterhin die Möglichkeit von regionalen Mindestlöhnen zu ermöglichen und lehnt die geplante Änderung, wie schon in der Vernehmlassung, ab.

Laura Brechbühler, Verantwortliche Politik in den Kantonen, Caritas Schweiz

Gerne vermitteln wir Interviews und beantworten Medienanfragen: medien@caritas.ch

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Titelbild: In Tieflohnbranchen wie der Reinigung könnten Mindestlöhne zur Existenzsicherung der Arbeitnehmenden beitragen. © Perretfoto.ch