

Angst vor Ausweisverlust treibt Menschen in die Armut
Für Menschen ohne Schweizer Pass drohen beim Bezug von Sozialhilfe migrationsrechtliche Folgen. An der jüngsten Ausgabe der Diskussionsreihe «Medien-Dialog Migration» von Caritas Schweiz und nccr - on the move warnten Fachpersonen: Die Unsicherheit führt zu prekären Lebenslagen und stellt auch die Sozialberatung vor Herausforderungen.
Wer in der Schweiz lebt, hat laut Verfassung Anspruch auf Hilfe in Notlagen. Bei finanziellen Schwierigkeiten ist die Sozialhilfe das letzte Auffangnetz und bietet eine wichtige Entlastung. Der Anspruch besteht unabhängig von Nationalität und Aufenthaltsstatus sowie der Ursache für die finanzielle Schieflage. Für Menschen ohne Schweizer Pass kann der Bezug jedoch schwerwiegende migrationsrechtliche Konsequenzen haben, bis hin zum Verlust des Aufenthaltsrechts.
«Die Entscheidungsprozesse für die Vergabe von Aufenthaltsbewilligungen sind weder transparent noch schweizweit einheitlich», erklärte Christin Achermann, Professorin für Migration, Recht und Gesellschaft an der Universität Neuchâtel am «Medien-Dialog Migration» (siehe Box). «Viele Betroffene verzichten aus Angst vor dem Ausweisverlust auf Sozialhilfe – selbst, wenn sie schon lange in der Schweiz leben, viele Jahre hier gearbeitet haben oder sogar hier geboren sind.» Das führe zu Verschuldung, existenzieller Unsicherheit und sozialer Isolation.
Der Medien-Dialog Migration ist ein Gemeinschaftsprojekt des nccr – on the move (das nationale Forschungs- und Kompetenzzentrum an der Universität Neuchâtel) und Caritas Schweiz. Die Diskussionsrunde findet mehrmals jährlich statt und fördert den Austausch zwischen Medienschaffenden sowie Fachpersonen aus Wissenschaft und Praxis im Themenfeld Migration. Mehr Informationen unter: www.caritas.ch/medien-dialog-migration
Unsichere Rechtslage erschwert die Sozialberatung
Mit der Gesetzesänderung von 2019 hat sich die Rechtslage verschärft. Seither können Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen bei Sozialhilfebezug einfacher widerrufen, nicht verlängert oder zurückgestuft werden. Es handelt sich in der Praxis immer um Einzelfallentscheidungen, bei denen Prognosen sowie die Frage der Selbstverschuldung zentrale Rollen spielen. Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren wie Arbeitsmarktbedingungen, Gesundheit oder Care-Arbeit werden hingegen nur gering berücksichtigt.
Diese Unsicherheit und Intransparenz erschweren auch die Sozialberatung. «Familie P. hat ein monatliches Defizit von 1'500 Franken. Wir konnten sie in kleinem Rahmen unterstützen. Doch als ich im Gespräch die Sozialhilfe erwähnt habe, ist die Familie trotz schwerwiegender finanzieller Probleme nicht mehr zurückgekommen», sagt Ismail Mahmoud, Sozialberater bei der Caritas beider Basel. Dies sei kein Einzelfall. «Die Angst vor dem Ausweisentzug ist tief verankert – und sie ist angesichts der Rechtslage nachvollziehbar.»
Die Caritas kann Notlagen nur kurzfristig überbrücken. Für eine längerfristige Existenzsicherung ist die Sozialhilfe vorgesehen. Deshalb setzen die Beraterinnen und Berater auf Aufklärung und Begleitung durch die Verfahren. «Doch selbst für uns ist die Risikoeinschätzung schwierig», so Mahmoud. «Kantonale Unterschiede und Ermessensspielräume führen dazu, dass jeder Fall anders ausgehen kann.»
Armut darf kein migrationsrechtliches Risiko sein
Erste Auswertungen der Berner Fachhochschule belegen, dass insbesondere Menschen mit C-Bewilligungen aus Drittstaaten weniger Sozialhilfe beziehen. Nicht, weil sie weniger Unterstützung benötigen – sondern aus Angst vor den Folgen. Welche Veränderungen wären nötig? «Mehr Transparenz und klare Abläufe wären ein erster Schritt», sind sich Mahmoud und Achermann einig. Langfristig brauche es jedoch eine strukturelle Lösung: die klare Entkopplung des Ausländer- und Integrationsgesetzes vom Sozialhilferecht.
Ein politischer Vorstoss geht in diese Richtung. Die parlamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen» will verhindern, dass Menschen, die seit über zehn Jahren in der Schweiz leben, ihre Bewilligung aufgrund von Sozialhilfebezug verlieren können. Obwohl das Parlament die Vorlage bereits angenommen hat, empfiehlt die staatspolitische Kommission nun, das Anliegen fallen zu lassen mit Verweis auf die Vernehmlassung. Zugleich ist der Ton in der Migrationspolitik seit den Wahlen vor zwei Jahren repressiver geworden. Der Nationalrat entscheidet in der kommenden Wintersession.
Für die Caritas ist klar: Die aktuelle Praxis führt zu unhaltbaren Situationen und muss dringend entschärft werden. Den Bezug von Sozialhilfe mit dem Widerruf der Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung zu sanktionieren, ist stossend und gerade bei langjährig in der Schweiz lebenden Menschen unverhältnismässig.
Geschrieben von Daria Jenni, Mediensprecherin Caritas Schweiz
Gerne vermitteln wir Interviews und beantworten Medienanfragen: medien@caritas.ch
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Titelbild: Die Unsicherheit bezüglich der Folgen von Sozialhilfe auf das Aufenthaltsrecht stellt Sozialberaterinnen und -berater vor Herausforderungen. © Dominic Wenger