Ein Urteil, das viele Fragen aufwirft
Die Schweiz führt vermehrt Personen nach Kroatien zurück, obwohl dort viele Gewalt erlebt haben, wie sie dem Rechtsschutz von Caritas berichten. Das Staatssekretariat für Migration stützt sich dabei auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das für Diskussionen sorgt.
Es sind Berichte, die betroffen machen: Das Rechtsschutzteam von Caritas Schweiz begleitet und vertritt Dutzende Personen, die über Kroatien in die Schweiz eingereist sind und Gewalthandlungen durch den kroatischen Grenzschutz erlebt haben. Die Personen erzählen von brutalen und wiederholten Pushbacks an der Grenze zu Bosnien-Herzegowina und Serbien, von verbaler, körperlicher und mitunter sexueller Gewalt. Ausserdem haben viele Geflüchtete keinerlei Informationen zum Asylverfahren erhalten, mussten aber ihre Fingerabdrücke hinterlassen und Dokumente unterzeichnen – ohne Dolmetscher und unter Zwang.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) anerkennt zwar, dass es solche Praktiken gibt und Kroatien hauptsächlich ein Transitland ist, in dem Migrierende gar kein Asylgesuch stellen wollen. Das BVGer ist aber ebenfalls der Ansicht, dass Überstellungen nach Kroatien zulässig sind. Denn sobald die Betroffenen im Rahmen eines Dublin-Verfahrens überstellt werden, würden sie ohne Probleme Zugang zum dortigen Asylverfahren erhalten.
Dies hält das BVGer in einem kürzlich gesprochenen Referenzurteil fest. Hintergrund war eine starke Zunahme von Dublin-Verfahren bei Personen, die Kroatien als Transitland genutzt und in der Schweiz ein Schutzgesuch gestellt haben.
Ein kurzer Aufenthalt, der Spuren hinterlässt
Die Berichte der Personen, die von Caritas Schweiz rechtlich vertreten werden, decken sich mit zahlreichen weiteren Zeugenaussagen. Gemäss diesen kommt es in Kroatien immer wieder zu Pushbacks und einem unverhältnismässigen Einsatz von Gewalt durch den Grenzschutz.
Obwohl der Aufenthalt in Kroatien in der Regel nur wenige Tage dauert, wirken sich solche Erlebnisse besonders negativ auf den physischen und psychischen Gesundheitszustand der Betroffenen aus. Denn diese sind durch ihre Erfahrungen im Herkunftsland, ihre Migrationsgeschichte und die mit einem Asylverfahren verbundene Unsicherheit bereits stark vorbelastet. Die Aussicht, in dieses Land zurückgeschafft zu werden, löst grosse Ängste aus, die sowohl aktuelle als auch ältere Traumata wiederaufleben lassen. Die Betroffenen benötigen dann während des Verfahrens in der Schweiz oftmals medizinische Betreuung.
Ist Kroatien glaubwürdig?
Mit seinem Urteil bestätigt das BVGer nun das Staatssekretariat für Migration in dessen sehr restriktiven Auslegung der Dublin-Verordnung bei Personen, die bereits in Kroatien registriert sind. Die Schlussfolgerungen des Gerichts werfen jedoch in mehrfacher Hinsicht Fragen auf.
Ist angesichts dessen, was sich an den Grenzen Kroatiens abspielt, noch davon auszugehen, dass das Land die internationalen Menschenrechtsstandards – der zentrale Baustein des Dublin-Systems – einhält? Kann man mit Blick auf die Geschehnisse wirklich annehmen, dass es nicht zu erneuten Verstössen (wenn wohl in geringerem Masse) gegen die Grundrechte von Migrierenden geben wird, nachdem diese Menschen nach Kroatien zurückgeführt wurden?
Die Staatssekretärin für Migration, Christine Schraner Burgener, erklärte unlängst gegenüber der Zeitung «Le Temps»: «Ich werde in den kommenden Monaten nach Kroatien reisen, um mir vor Ort selbst ein Bild von der Lage zu machen. Es ist aber auch festzuhalten, dass die für Migrationsfragen zuständigen europäischen Innenminister der Ansicht sind, dass die Asylverfahren dort ordnungsgemäss durchgeführt werden.»
Doch wie es aus humanitärer Sicht um die Aufnahmebedingungen, die medizinische Versorgung oder den Zugang zu einem fairen Asylverfahren steht, ist fraglich. Kroatien hat 2022 eine Rekordzahl an Asylanträgen verzeichnet, über das ganze Jahr gesehen aber nur 21 Menschen einen Schutzstatus gewährt. Wie sollen da die sichtbaren und unsichtbaren Narben von geflüchteten Frauen, Männern und Kindern aus Afghanistan, der Türkei oder Burundi heilen? Und wie sollen diese Menschen den Schritt in eine neue Zukunft wagen können, wenn man ihnen unmissverständlich zu verstehen gibt, dass sie nicht willkommen sind?
Geschrieben von Guillaume Bégert, Jurist und Teamleiter innerhalb der Rechtsvertretungen für Asylsuchende in den Bundesasylzentren der französischsprachigen Schweiz*
Interviewanfragen und weitere Informationen: medien@caritas.ch
*Im Auftrag des Bundes übernimmt Caritas Schweiz die Rechtsvertretung und Rechtsberatung in der Asylregion Westschweiz und, zusammen mit der Organisation SOS Ticino, in der Region Tessin und Zentralschweiz.