Drei Hindernisse im Kampf gegen Mädchenbeschneidung
Als Unterzeichnerin der Istanbul-Konvention ist die Schweiz verpflichtet, die Genitalverstümmelung von Frauen zu bekämpfen. Noch unternehmen die Behörden aber zu wenig, stellt nun die Expertengruppe Grevio des Europarats fest. Caritas Schweiz zeigt, welche Massnahmen ergriffen werden müssten.
«Am Anfang versuchte ich, mich zu wehren. Doch irgendwann haben mich die Schmerzen so überwältigt, dass ich keine Kraft mehr hatte.»
So wie dieser Frau aus Somalia ergeht es Millionen Mädchen und Frauen weltweit. Auch in der Schweiz leben schätzungsweise 22'400 Frauen und Mädchen, die Opfer von weiblicher Genitalbeschneidung wurden oder dieser Gefahr ausgesetzt sind. Female Genital Mutilation/Cutting, kurz FGM/C, ist gemäss Art. 124 StGB verboten. Sie wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren bestraft – unabhängig davon, ob die Tat im Ausland oder in der Schweiz begangen wurde.
Darüber wurde jüngst ein Elternpaar aus Somalia aufgeklärt. Sie mussten sich Mitte Februar vor dem Bezirksgericht Baden verantworten, weil sie in ihrem Heimatland fünf ihrer sechs Töchter im Alter von vier bis elf Jahren mutmasslich beschneiden liessen. Das Gericht sprach die Mutter und den Vater frei – weil die Tat nicht abschliessend bewiesen werden konnte. Und weil die Töchter ihre Eltern nicht belasten wollten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Behörden haben Aufholbedarf
Die weibliche Genitalbeschneidung ist in vielen ost- und westafrikanischen Ländern sowie in einigen Regionen im Nahen Osten und Asien verankert und fusst in religiösen und medizinischen Mythen. Bei FGM/C wird die Klitoris teilweise oder komplett entfernt, zum Teil auch die kleinen, äusseren und/oder inneren Schamlippen zusammengenäht.
Die Beschneidung kann drastische Folgen für die Gesundheit haben. Sie kann zu Infektionen, Unfruchtbarkeit, Schmerzen bei der Menstruation, beim Urinieren, beim Geschlechtsverkehr oder bei der Geburt führen. Hinzu kommen seelische Schmerzen, die das Leben prägen können.
Die Schweiz unternimmt zu wenig gegen die Praxis. Zu diesem Schluss kommt die unabhängige Expertengruppe Grevio des Europarats in ihrem neuesten Bericht (abrufbar unter www.maedchenbeschneidung.ch/netzwerk). Grevio überwacht die Umsetzung der sogenannten Istanbul-Konvention. Dabei handelt es sich um ein internationales Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, das die Schweiz mitunterzeichnet hat und das 2018 in Kraft getreten ist.
Die Istanbul-Konvention verpflichtet die Schweiz unter anderem dazu, gegen die weibliche Genitalverstümmelung vorzugehen. Wie Grevio nun schreibt, sind die Bemühungen der Schweiz hauptsächlich in drei Bereichen lückenhaft:
Kantonale Unterschiede: Grevio hebt explizit die Tätigkeiten des «Netzwerkes gegen Mädchenbeschneidung» hervor, das unter anderem von Caritas Schweiz getragen wird. Gelobt wird das Netzwerk für dessen Engagement, im Auftrag des Bundes regionale Anlaufstellen aufzubauen. Kritisiert wird aber, dass es sowohl bei der Versorgung als auch der Prävention grosse kantonale Unterschiede gibt. Folglich hängt es nach wie vor vom Wohnort ab, ob und wie kompetent betroffene Frauen Unterstützung erhalten.
Mangelhafte Weiterbildung: Laut Grevio sind Gesundheitsfachpersonen in der Schweiz ungenügend sensibilisiert was die geschlechtsspezifische Gewalt unter Migrantinnen und Asylsuchenden betrifft, auch in Bezug auf FGM/C. Die Expertengruppe rät deshalb, das Thema in die Aus- und Weiterbildung von Gesundheitsfachpersonen aufzunehmen.
Praxisferner Gesetzesartikel: Grevio kritisiert den bereits erwähnten Art. 124 StGB wegen seines weiten Anwendungsbereichs. Er ermöglicht es der Schweiz, auch Handlungen zu ahnden, die im Ausland begangen wurden. Dadurch würden zu viele Personen kriminalisiert, unabhängig davon, ob sie zum Tatzeitpunkt einen Bezug zur Schweiz hatten oder nicht. Ausserdem würden dadurch viele betroffene Frauen aus Furcht vor einem Strafverfahren eine medizinische oder psychosoziale Hilfsleistung meiden. Grevio rät deshalb, den Strafartikel zu überarbeiten.
«Kantone müssen Zuständigkeiten definieren»
Die Einschätzungen der unabhängigen Expertengruppe teilen Simone Giger und Denise Schwegler, Projektverantwortliche FGM/C bei Caritas Schweiz. «Grevio unterstreicht vieles, was wir seit Jahren fordern», sagt Giger. Zu den regionalen Unterschieden hält sie fest: «Die Kantone müssen ihr Engagement gegen weibliche Genitalbeschneidung verstärken, Zuständigkeiten definieren und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen. Denn die Einhaltung der Istanbul-Konvention basiert nicht auf Freiwilligkeit, sondern sie ist eine Verpflichtung.» Eine Möglichkeit sei es, das Thema in die Kantonsstrategie aufzunehmen. Dadurch würde Verbindlichkeit geschaffen.
Auch die von Grevio vorgeschlagene Überprüfung des Gesetzesartikels würde Denise Schwegler begrüssen. Wobei sie betont: «Das Strafrecht allein bewirkt kein Umdenken. Vielmehr müssen tief verwurzelte Überzeugungen und Wertesysteme verändert und die Präventionsarbeit ausgebaut werden.»
Geschrieben von Niels Jost
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Titelbild: Netzwerktreffen zum Thema Mädchenbeschneidung © Heike Grasser