«Man darf sich nicht schämen, um Hilfe zu bitten»
Marília S. (46), Schweiz
«Man darf sich nicht schämen, um Hilfe zu bitten»
Marília S. (46), Schweiz


Marília (46), Arbeiterin in der Westschweizer Uhrenindustrie, hat den Mut, mit unverhülltem Gesicht zu sprechen: 2020, als die Pandemie sie in die Arbeitslosigkeit stürzte und sie mit 20% weniger Lohn auskommen musste, stellte sie eines Morgens fest, dass sie nichts mehr zu essen hatte. Es kostete sie grosse Überwindung, sich mit der Bitte um Hilfe an die Caritas zu wenden. Marília S. ist ein Fall unter tausenden. Allen gemeinsam ist, dass sie klar aufzeigen: Die Schweiz braucht eine entschlossene Politik zur Bekämpfung von Armut.
Der Ausbruch der Corona-Krise im Jahr 2020 hat das Leben von Marília verändert. Ihre Situation steht beispielhaft für die tiefgreifende Krise, die Tausende von Menschen in der Schweiz während der Pandemie durchleben: Arbeitnehmende mit prekären Arbeitsverhältnissen, mit befristeten Verträgen oder auf Abruf, Menschen mit Kurzarbeitsentschädigung und Niedriglohnbeziehende. Allesamt wurden sie durch den Lockdown und den wirtschaftlichen Abschwung in eine tiefgreifende materielle und soziale Notlage katapultiert.
Vom Bundesamt für Statistik erhobene Zahlen bestätigen es: Corona verschlechtert die Lebensbedingungen von Menschen mit geringem Einkommen. Und genau das erlebt jetzt Marília S. einige Monate nach dem Schock durch die erste Pandemiewelle. Den Arbeitsplatz in der Westschweizer Uhrenindustrie hatte sie über ein Temporärbüro bekommen. Die Arbeit gefiel ihr sehr gut und sie machte sich Hoffnungen auf eine Festanstellung. «In der Belegschaft sowie zwischen Arbeitnehmenden und Vorgesetzten herrschte ein gutes Klima.» Aufgrund ihrer Anfälligkeit für Bronchialinfekte gehörte Marília zu den durch die Pandemie besonders gefährdeten Risikogruppen. Leider war sie auch eine der Ersten in ihrem Betrieb, die 2020 pandemiebedingt ihre Arbeit verloren. «Mein Chef sagte mir, dass er mich wiedereinstellen würde, sobald sich die Situation verbessere. Aber seither habe ich nichts mehr von ihm gehört», erinnert sie sich.
Für die allein lebende Marília, Mutter einer 19jährigen Tochter, ist die Sprache der Zahlen gnadenlos. Wenn man bei einem Lohn von 3800 Franken 20% einbüsst, kann man seinen finanziellen Verpflichtungen einfach nicht mehr nachkommen. Marília und ihr Mann trennten sich 2019. Der Vater ihrer Tochter bezieht seit Frühjahr 2020 auch Kurzarbeitsentschädigung. Wie soll man in solch einer Situation wieder auf eigenen Füssen stehen? Die persönlichen Ersparnisse sind in wenigen Monaten aufgebraucht. Der grösste Teil von Marílias Familie lebt in ihrem Heimatland Portugal. Auf Unterstützung durch die Familie kann sie also kaum zählen.
Noch heute ist Marília sehr bewegt, wenn sie über den Juli 2020 spricht, als ihr noch genau 40 Franken blieben, um sich Essen zu kaufen. Sie erinnert sich noch gut an die drei Tüten mit Lebensmitteln, die eine Freundin diskret vor ihrer Haustür abstellte. Sie war am Abgrund angelangt. «Sie haben einen guten Lebenslauf. Sobald es wieder aufwärts geht, melden wir uns bei Ihnen.» Unzählige Male hatte sie sich auf offene Stellen beworben. Ihre Bewerbungsmappe per Post oder per E-Mail losgeschickt, immer in der Hoffnung, eine neue Arbeit zu finden. Doch die Pandemiewellen folgten sich auf dem Fusse und Marília kommt aus ihrem Loch nicht mehr heraus. Dass sie gerne bastelt und Spass am Dekorieren hat, half ihr, in dieser Zeit durchzuhalten. Und natürlich ihre Reiki-Ausbildung.
Durch Zufall erfuhr sie, dass man in ihrer Region Nothilfe über die Caritas beziehen kann. Marília hat ihr Leben lang von ihrer Hände Arbeit gelebt, pünktlich ihre Rechnungen bezahlt und niemals fremde Hilfe in Anspruch genommen. Getreu dem Vorbild ihrer Eltern, die ihr immer vorlebten, dass man fleissig und rechtschaffen sein müsse. Werte, die auch Marília ihrer Tochter weitergeben möchte. Es kostete sie eine unglaubliche Überwindung, an die Tür der regionalen Caritas-Organisation zu klopfen. «Man hat mich sofort ernst genommen und mir zugehört», erinnert sie sich lächelnd.
Mit den Gutscheinen, die sie nach Klärung ihrer Situation erhielt, konnte sie unkompliziert Dinge des täglichen Bedarfs kaufen. Die Caritas übernahm auch für zwei Monate die Mietzinszahlungen und Krankenkassenprämien. Dann galt es, ausstehende Steuerforderungen zu verhandeln und einen Plan für das Begleichen der Kreditkartenschulden aufzustellen. Eine schmerzhafte Erinnerung an eine Zeit, in der die Familie sich ein klein wenig Sorglosigkeit gönnte. Ein paar einfache Ratschläge und eine Aussensicht auf eine scheinbar unlösbare Situation ermöglichen das Entwickeln von Lösungsansätzen.
Durch die schnelle Finanzhilfe, die das Caritas-Netz seit April 2020 zur Verfügung stellte, konnte die Situation für eine Übergangszeit und subsidiär zur Unterstützung durch den Bund etwas entspannt werden. Die staatlichen Hilfsprogramme erwiesen sich in vielen Fällen als zu schwerfällig. Zahlreiche Hilfsbedürftige waren auf schnelle Unterstützung angewiesen. «Man darf sich nicht schämen um Hilfe zu bitten und man sollte auch nicht zu lange damit warten», sagt Marília mit Nachdruck und ohne Scheu.
So richtig erleichtert war Marília im Dezember 2020, als sie von einem anderen Unternehmen in ihrer Region eingestellt wurde. Endlich sieht sie Licht am Ende des Tunnels. Grosse Sprünge kann sie zwar auch jetzt nicht machen, obwohl sie sogar etwas mehr verdient als zuvor. Aber die neue Arbeit bringt sie wieder auf Kurs und macht sie stolz auf ihre Unabhängigkeit. Auch hat sie die Hoffnung, dass ihre befristete Stelle eines Tages zu einer unbefristeten wird. Als sie jünger war, träumte sie von einem Studium. Aber wie so oft hatte das Leben andere Pläne. Heute hat sie das feste Ziel vor Augen, sich beruflich weiterzubilden, um ihre Qualifizierung und dadurch auch ihren Lohn zu verbessern Um besser gewappnet zu sein für die Unwägbarkeiten des Lebens.
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