Wird das Recht auf Familienleben genügend beachtet?

Caritas Schweiz setzt sich für Familien im Asylverfahren ein

Ein junger Afghane ist eine unverzichtbare Stütze für seine schwer kranke Mutter und seine 17-jährige Schwester. Dennoch wollte das Staatssekretariat für Migration die Familie trennen. Fälle wie diese zeigen, welch schwerwiegende psychische Folgen die restriktive Migrationspolitik der Schweiz haben kann.

Die Reise von Afghanistan in die Schweiz dauerte Monate und war von enormen Strapazen geprägt. Sie führte eine Mutter mit ihrer 17-jährigen Tochter und ihrem erwachsenen Sohn über Griechenland, wo sie zwei Jahre unter schwierigsten Umständen bleiben mussten. Die Frau ist psychisch äusserst vulnerabel und litt gemäss ärztlicher Diagnose unter einer schweren Depression, Angstzuständen und hatte Suizidgedanken.

Eine unverzichtbare Stütze stellte ihr Sohn dar. Auch für seine jüngere Schwester war dieser eine wichtige Bezugsperson. Dennoch entschied das Staatssekretariat für Migration (SEM) im März 2022, dass nur die Mutter und die Tochter provisorisch in der Schweiz aufgenommen werden, während der junge Mann nach Griechenland zurückgeschickt werden sollte.

Damit nicht genug. Nachdem die Familie gegen diesen Entscheid eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht hatte, wurden Mutter und Tochter bis zum Urteil dem Kanton Schaffhausen zugewiesen, während der Sohn im Kanton Waadt bleiben musste. Dies trotz der Befürchtung, dass sich die psychische Verfassung der Mutter verschlechtern wird.

Internationales Recht wird restriktive ausgelegt

Diese Entscheidung warf verfassungsrechtliche Fragen auf zu Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), dem Recht auf Achtung des Familienlebens. Die Schweizer Behörden legen den Begriff «Familie» jedoch restriktiv aus. Es ist nicht garantiert, dass Mitglieder derselben Familie vereint werden können, wenn es sich nicht um die Eltern oder um minderjährige Kinder handelt.

Vielmehr muss bewiesen werden, dass eine Person effektiv angewiesen ist auf ein Familienmitglied, damit ein Asylantrag angenommen wird. Gemäss geltender Rechtsprechung muss dies nicht zwingend mit einer Krankheit oder einer Behinderung verbunden sein, sondern kann sich aufgrund von grundlegenden Bedürfnissen im Alltag ergeben, unabhängig davon, wie alt eine Person ist. Mehrere Bundesgerichtsentscheide unterstützen diese Sichtweise.

Aus diesem Grund legte die afghanische Familie die Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht ein, insbesondere wegen Verstoss gegen Artikel 8 EMRK. Parallel dazu legte sie Beschwerde gegen die Zuweisung in unterschiedliche Kantone ein. Damit wollten sie erwirken, dass der Sohn bei seiner psychisch schwer kranken Mutter und seiner jüngeren Schwester bleiben kann, die aufgrund des Gesundheitszustands der Mutter und der drohenden Ausweisung ihres Bruders ebenso fragil ist. Die Mutter und die Schwester legten vor Gericht auf eindrückliche Weise dar, wie stark sie emotional und psychisch durch diese Entscheide verunsichert sind.

In Anbetracht der medizinischen Gutachten und der Tatsache, dass die kantonalen Behörden den älteren Bruder zum Vormund der jungen Mandantin ernannt hatten, revidierte das SEM seinen Entscheid betreffend Kantonswechsel. Auch die Rückweisung des jungen Mannes nach Griechenland wurde zurückgezogen. Im Juli 2023 gewährte das SEM dem afghanischen Staatsbürger eine provisorische Aufnahme. Bis zu diesem Entscheid verstrich allerdings so viel Zeit, dass sich der Zustand seiner Mutter weiter verschlechterte: Sie hatte aktive Suizidabsichten entwickelt.

Langwierige Verfahren verschlimmern psychische Probleme

Viele Familien, die in der Schweiz Schutz suchen, erleben Verfahren, die sich in die Länge ziehen. Das belastet die psychische Gesundheit der Asylsuchenden ungemein. Die nachträgliche Anerkennung, dass jemand auf eine Person angewiesen ist, ändert nichts am psychologischen Druck, der mit dem Warten und der Unsicherheit einer drohenden Ausweisung einhergeht. Die Angst einer Trennung führt oft dazu, dass sich die mentalen Leiden verschlimmern. Dies hätte von den Behörden in gewissen Fällen verhindert werden können, wenn sie die Fakten des Dossiers umfassend und sorgfältig geprüft hätten.

Die Tatsache, dass familiäre Beziehungen daran gemessen werden, wie stark die Personen aufeinander angewiesen sind, wirft verfassungsrechtliche und praktische Fragen auf. Problematisch ist ebenso das restriktiv ausgelegte Recht auf Privat- und Familienleben in der nationalen und internationalen Praxis. Auch durch den Ermessensspielraum der Schweizer Behörden und ihre Einmischung in die Angelegenheiten und Bedürfnisse von Familien im Migrationsbereich wird die Verletzlichkeit von Asylsuchenden letztlich verstärkt.

Geschrieben von Monika Trajkovska, Rechtsvertreterin von Caritas Schweiz im Bundesasylzentrum Boudry

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Titelbild: © Caritas Schweiz