Wird Armut in der Schweiz tatsächlich nicht vererbt? 

Eine Studie zu familiärer Herkunft und Sozialhilfebezug führt zu irreführenden Schlagzeilen

Eine Studie zum Einfluss der familiären Herkunft auf den Sozialhilfebezug, die das Luzerner Institut für Wirtschaftspolitik Ende Oktober publiziert hat, stiess auf grosses Medieninteresse. Schlagzeilen wie «Armut wird in der Schweiz kaum vererbt» oder «Die Schweiz ist ein Land der Aufsteiger» sind jedoch irreführend.

Dass Armut in der Schweiz nicht vererbt wird, ist aus verschiedenen Gründen eine unzutreffende Schlussfolgerung:

  • Die Ergebnisse der Studie zeigen klar, dass Kinder, die in einem Elternhaus mit Sozialhilfe aufgewachsen sind, später ein viel grösseres Risiko haben als der Durchschnitt, ebenfalls von Sozialhilfe abhängig zu sein. Das heisst: Armut (hier gemessen als Sozialhilfebezug) wird auf die nächste Generation vererbt.
  • Der Einfluss der Grosseltern ist laut den Autorinnen und Autoren schon weniger gross. Wer einen Cousin oder eine Cousine hat, der oder die Sozialhilfe bezieht, hat nur ein leicht höheres Risiko, selber auf Sozialhilfe angewiesen zu sein als der Durchschnitt. Allerdings wird der Effekt des anderen Familienteils im Modell nicht berücksichtigt. Der Einfluss der nichtverwandten Grosseltern und Partnerlinien fliesst also bei der Berechnung mit ein und verzerrt die Ergebnisse.
  • In der medialen Berichterstattung – in geringerem Masse auch in der Studie selbst – wurde die soziale Mobilität in der Schweiz beschönigt. Insbesondere die Bildungsmobilität ist in der Schweiz gering. Das wird aus den Ergebnissen der Studie klar. Und das zeigen auch die Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS) zur sozialen Mobilität: Der Bildungsabschluss hängt hierzulande stark von jenem der Eltern ab. Personen, deren Eltern ein niedriges Bildungsniveau haben, haben ein 20-mal höheres Risiko, keinen Berufsabschluss zu machen, als Personen, deren Eltern einen hohen Bildungsstand haben.
  • Die IWP-Studie misst Bildung allerdings lediglich über die Anzahl besuchter Schuljahre und nicht über den erreichten Abschluss. Das verzerrt möglicherweise die Resultate. Aus Armutsperspektive ist entscheidend, ob ein nachobligatorischer Abschluss erreicht wurde. Personen ohne nachobligatorischen Bildungsabschluss haben viel häufiger als Personen mit Abschluss geringe Grundkompetenzen, sind häufiger erwerbslos und arbeiten häufiger zu einem tiefen Lohn. Das schlägt sich in der Armutsbetroffenheit nieder: Ihr Risiko, von Armut betroffen oder bedroht zu sein, ist doppelt so hoch wie jenes der Durchschnittsbevölkerung.
  • Auch die finanzielle Situation wird in der Schweiz – anders, als oft behauptet – häufig von Generation zu Generation weitergegeben, wie die Zahlen des BFS zeigen: Wer bereits als Kind in einem Elternhaus mit finanziellen Schwierigkeiten aufwuchs, lebt auch später deutlich häufiger in einem Haushalt, der Mühe hat, über die Runden zu kommen.

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Titelbild: © Conradin Frei