Wenn die schlimmsten Erinnerungen wieder hochkommen
Valentyna Tkachenko wurde im Zweiten Weltkrieg geboren. Sie erinnert sich noch an die Zerstörung und Not. Sie hoffte auf einen ruhigen Lebensabend in ihrer kleinen Wohnung in Zaporizhzhia. Doch der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine änderte alles.
«An die Sirenen war ich gewöhnt. Seit zwei Jahren heulten sie ständig, ohne dass etwas passierte. Aber an diesem Tag ging es ganz schnell», erinnert sich Valentyna Tkachenko. «Ich lief gerade von der Küche ins Schlafzimmer, als ein ohrenbetäubender Lärm ertönte und wenige Sekunden später die Fensterscheiben zerbarsten.» Die 84-Jährige schildert, wie die Bilder von der Wand krachten und liebevoll angeordnete Gegenstände aus der offenen Vitrine fielen. In der Wohnung herrschte totales Chaos. Gut, sagt Valentyna, hatten ihre hochschwangere Enkeltochter und deren Freund bei seinen Eltern übernachtet.
«Zehn Tage lang konnte ich kaum eine Tasse in der Hand halten.»Valentyna Tkachenko
So schnell wie möglich wieder in die eigenen vier Wände
Äusserlich blieb Valentyna bei dem Raketenangriff unverletzt, aber der Schreck sass so tief, dass sie nicht aufhörte zu zittern. «Zehn Tage lang», so erzählt sie, «konnte ich kaum eine Tasse in der Hand halten.» Valentyna und die vier Familienmitglieder, die mit ihr die Wohnung teilen, kamen bei Freunden und Bekannten unter. Die alte Dame nahm nur eine Tüte mit Dokumenten, Medikamenten und etwas Wechselwäsche mit, sonst nichts. Sie will so schnell wie möglich wieder zurück in ihre eigenen vier Wände.
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist, dass die Stadtverwaltung die fehlenden Fenster mit Pressspanplatten abgedichtet hat. Zwar ist es jetzt in der Wohnung dunkel und es zieht durch die Ritzen, aber das hält Valentyna nicht davon ab, fast jeden Tag für mehrere Stunden nach Hause zu gehen. Dann setzt sie sich – wenn es sein muss auch im Mantel – auf ihr Sofa und wartet, ob sich ihre Katze «Sonnenschein» hervortraut. Das Tier ist seit der Explosion völlig verängstigt.
Ein Wunsch für den Urenkel
Wenige Tage nach dem Unglück klopfte das Team von Caritas Zaporizhzhia an Valentynas Tür. Sie fragten in der ganzen Nachbarschaft, wie es den Menschen geht und welche Schäden die Explosion bei ihnen verursacht hat. Die Mitarbeitenden der Caritas verteilten kleine Bargeldbeträge für notwendige Anschaffungen. Etwa zwei Wochen später kamen Ingenieure der Caritas ins Hochhaus, um die Fenster zu vermessen. Valentyna hätte keine finanziellen Mittel, die zu Bruch gegangene
Fensterfront zu ersetzen. Jetzt treibt sie die Reparaturarbeiten voran, damit alles fertig ist, wenn ihr Urenkel auf die Welt kommt. «Er soll hier aufwachsen können. Und ich hoffe, im Frieden.»
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Titelbild: Bei Valentyna Tkachenko löst der Krieg schreckliche Erinnerungen aus. © Valentyn Kliushnyk