Severin Nowacki
Severin Nowacki

Wenn Behörden das Unmögliche verlangen

Caritas setzt sich für fairen Familiennachzug ein

Der Familiennachzug ist in der Schweiz ein kontrovers diskutiertes Thema. Jüngst hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweizer Behörden wegen ihres überspitzen Formalismus’ gerügt. Ein Urteil mit Signalwirkung.

Die Geschichte von B. F. bewegt. Die ehemalige Kindersoldatin aus Eritrea wurde 2014 vorläufig in der Schweiz aufgenommen. Weil B. F. gesundheitlich derart angeschlagen war, ist sie nie in der Lage gewesen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und finanziell unabhängig zu sein. Dies wurde ihr sogleich zum Verhängnis, als sie einen Antrag auf Nachzug ihrer Tochter stellte. Diese war damals 14 Jahre alt, der Vater war verschwunden.

Die Schweizer Behörden haben den Antrag abgelehnt. Sie kamen zum Schluss, dass B. F. ihre Eltern-Kind-Beziehung mithilfe moderner Kommunikationsmittel aufrechterhalten könne. Zudem habe ihre Tochter die Möglichkeit, beim UNHCR im Sudan Schutz zu beantragen. Als der Entscheid verkündet wurde, erlitt B. F. einen Zusammenbruch und musste für einige Tage hospitalisiert werden.

Wiedervereint nach zehn Jahren

Caritas Schweiz hat die Frau rechtlich unterstützt, dies in Zusammenarbeit mit dem Centre Suisse pour la Défense des Droits des Migrants mit Sitz in Genf*. Gemeinsam haben sie den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gezogen – mit Erfolg. In seinem Urteil vom 4. Juli 2023 hat er den Familiennachzug für rechtens erklärt. Nach zehn Jahren der Trennung und mehr als acht Jahren Prozessdauer lebt B. F. heute mit ihrer 22-jährigen Tochter in der Schweiz.

In seinem Urteil hat sich der EMGR zu drei weiteren Fällen von geflüchteten Personen geäussert. Die Anträge für den Nachzug ihrer minderjährigen Kinder wurden zuvor alle vom Staatssekretariat für Migration und vom Bundesverwaltungsgericht wegen der finanziellen Belastung abgelehnt.

Der Gerichtshof befand, dass die Schweizer Behörden in drei der vier Fälle «das Unmögliche verlangt» hätten. Der EGMR bestätigt, dass sie alle nicht in der Lage waren, die gesetzlich vorgeschriebene finanzielle Unabhängigkeit sicherzustellen. Dies wegen der Gesundheitsprobleme, schlechten Lohnbedingungen und/oder der Tatsache, dass sie alleinerziehend sind.

Unflexible Haltung, die viel Zeit und Geld kostet

Welche Kosten – auch finanzieller Natur – verursacht die unflexible Haltung unserer Institutionen? Wie viel Leid, Psychotherapie und Gesundheitskosten hätte man durch einen raschen Familiennachzug vermeiden können? Und wie viele Jahre möglicher Integration wurden so verschwendet?

Die Tochter von B. F. hätte heute höchstwahrscheinlich eine abgeschlossene Lehre, und die Mutter hätte sich um ihre Integration kümmern können. Soziologische Studien zeichnen ein klares Bild: Von der Familie getrennt zu sein, wirkt sich negativ auf den Gesundheitszustand und die gesellschaftliche Integration Geflüchteter aus**.

Das Urteil ist deshalb ein Sieg für die Wahrung der Grundrechte geflüchteter Menschen. Es handelt sich womöglich um einen wegweisenden Entscheid, dank dem sich andere noch hängige Verfahren positiv entwickeln könnten. Es bleibt zu hoffen, dass die Schweizer Behörden künftig berücksichtigen, wenn es jemandem nicht möglich ist, die eigene finanzielle Unabhängigkeit sicherzustellen. Dadurch würde den Schwächsten nicht mehr systematisch das Recht auf ein Familienleben verwehrt bleiben.

Grundsatz vor Status

Es gilt abzuwarten, wie sich die Erwägungen des EGMR auf alle vorläufig aufgenommenen Personen (F-Ausweis) auswirken werden, einschliesslich diejenigen ohne Flüchtlingsstatus, die in der Praxis etwas schlechter gestellt sind, etwa bei der Sozialhilfe. Die Rede ist von Personen, denen die Schweiz ein Schutzbedürfnis zuerkannt hat, weil ihre Rückführung nicht möglich, rechtmässig oder zumutbar ist. Eine Rückführung in ihre Heimat würde sie zwar konkret gefährden, dennoch haben sie keinen Flüchtlingsstatus erhalten – eine Situation, die etwa Menschen aus Syrien und Afghanistan betrifft.

Das Bundesgericht selbst unterscheidet nicht zwischen den beiden Arten von F-Ausweisen. In einem Urteil hält es fest, dass «bezweifelt werden kann, ob blosse finanzielle Erwägungen unter dem Gesichtspunkt von Art. 8 § 2 EMRK die Ablehnung eines Antrags auf Familiennachzug rechtfertigen können, wenn eines der Familienmitglieder eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung besitzt».

Hinzu kommt, dass vorläufig aufgenommene Personen häufig drei der fünf Bedingungen erfüllen, die einen Familiennachzug zulassen: die Familie wurde durch Flucht getrennt, es sind Kinder betroffen und es bestehen «erhebliche Hindernisse» für das Familienleben im Herkunftsland.

Nach einem früheren Entscheid des Europäischen Gerichtshofs haben die Staaten zwar einen Ermessensspielraum, um zwischen Personen mit Flüchtlingsstatus und Personen, die eine andere Form des Schutzes geniessen, zu unterscheiden. Sie müssen aber ein flexibles, rasches und effizientes Verfahren für den Familiennachzug sicherstellen. Dabei muss eine individuelle Beurteilung zwecks Wahrung der Einheit der Familien vorgenommen werden.

Was der Gerichtshof mit seinem lange erwarteten Entscheid nun verurteilt hat, ist eine zu restriktive Anwendung des Kriteriums der Sozialhilfeunabhängigkeit ohne Berücksichtigung der konkreten Umstände. Eine diesbezügliche Ungleichbehandlung von Geflüchteten und vorläufig aufgenommenen Personen ohne Flüchtlingsstatus ist nach dem Gericht nicht zu rechtfertigen.

* Caritas Schweiz hat per 1. November 2023 den Auftrag des Centre Suisse pour la Défense des Droits des Migrants übernommen.

**Siehe hierzu Fallstudie des Schweizerischen Roten Kreuzes Familie: zentral für Gesundheit und Integration.

Der vollständige Artikel ist in «Vivre Ensemble» auf www.asile.ch erschienen.

Geschrieben von Gabriella Tau, Leiterin der Rechtsberatungsstelle der Caritas Schweiz in Fribourg

Interviewanfragen und weitere Informationen: medien@caritas.ch

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Titelbild: Severin Nowacki