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«Ohne die Caritas? Ich hätte wohl aufs Essen verzichtet»

Fonds für Einzelfallhilfe

Melanie* ist arbeitstätig, lebt aber am Existenzminimum. Als sie eine Zahnarztrechnung von über 1ʼ000 Franken erhielt, wusste sie nicht mehr weiter. Die Caritas hat die 33-Jährige finanziell unterstützt. Im Interview spricht sie über Schamgefühle, Einsamkeit – und ihre Lieblings-Metal-Band.

Melanie, fast genau ein Jahr ist es her, als du bei der Caritas angerufen hast. Was war damals der Grund?

Ich hatte fürchterliche Zahnschmerzen. Weil ich eine Zahnarztphobie habe, zögerte ich die Behandlung hinaus, bis ich es nicht mehr aushielt. Dann stellte man fest, dass ich auf zwei Backenzähnen Karies habe und je eine Füllung brauche. Als die Rechnung von über 1ʼ000 Franken kam, realisierte ich sofort: Das kann ich unmöglich zahlen. Also googelte ich nach Hilfsangeboten.

Du arbeitest in einem 80-Prozent-Pensum im Verkauf. Weshalb konntest du die Rechnung nicht selbst stemmen?

Im Verkauf sind tiefe Löhne leider keine Seltenheit. Wenn am Ende des Monats mal 200 Franken übrigbleiben, ist das schon viel für mich. Deshalb habe ich kaum Erspartes. Eine unerwartete Zahnarztrechnung wie diese kann ich schlicht nicht bezahlen.

Wie hat dich die Caritas unterstützt?

Der Kirchliche Regionale Sozialdienst (KRSD) Mutschellen-Reusstal, welcher von der Caritas Aargau geführt wird, hat die Hälfte der Rechnung bezahlt. Das Geld kam von der Einzelfallhilfe der Caritas Schweiz. Die restlichen 500 Franken trug meine Zahnzusatzversicherung, die ich zum Glück abgeschlossen habe.

Wie hast du dich damals gefühlt, als du die Rechnung sahst?

Ich war komplett geschockt. Ich fragte mich: Was mache ich nur damit? Ich hatte Existenzängste, Tränen in den Augen.

Was hättest du getan, wenn dich die Caritas und der KRSD nicht unterstützt hätten?

Ich hätte meine Familie, Verwandte und Bekannte gefragt, ob sie mir Geld leihen könnten. Ich habe auch einen sehr grosszügigen ehemaligen Mitbewohner. Aber ich will nicht immer ihn fragen. Und meine Eltern haben selbst wenig Geld zum Leben; mein Vater bezieht Sozialhilfe und meine Mutter kann erst seit kurzem wieder auf den eigenen Beinen stehen. Ohne die Caritas hätte ich wohl aufs Essen verzichtet. Es hätte gar keine Alternative gegeben.

«Wir hatten nie viel Geld. Es war normal, Kleidung entweder aus der Kleiderbörse oder von anderen Kindern zum Nachtragen zu bekommen.»

Deine Eltern befinden sich ebenso in einer prekären finanziellen Situation. Studien belegen, dass Armut vererbbar ist. War dies auch bei dir so?

Ja, wir hatten nie viel Geld. Für meine Geschwister und mich war es normal, Kleidung entweder aus der Kleiderbörse oder von anderen Kindern zum Nachtragen zu bekommen. Auch Spielsachen waren zum Grossteil Secondhand. Teure Marken-Lebensmittel wie Coca Cola oder Nutella gab es nur zu speziellen Anlässen. Es gab Jahre, in denen meine Mutter Weihnachtsgeld für uns Kinder bekommen hat. Ohne diese zusätzliche Unterstützung hätten wir wohl nicht Weihnachten feiern können. Es war manchmal schwer, weil die Kinder im Kindergarten und in der Schule neuere und bessere Sachen hatten als wir. Deshalb habe ich Mobbing und Ausgrenzung erfahren, was zu einer Angststörung führte. Auch in meiner Jugendzeit litt ich sehr.

Inwiefern?

Mit etwa 18 Jahren bekam ich ein Alkoholproblem. Kurz vor meinem Abschluss an einer Berufsfachschule für Wirtschaft brach ich die Ausbildung ab. Ich wurde arbeitslos, musste zum RAV. Zur Angststörung kam eine Depression dazu. Durch Psychotherapie kam ich wieder auf die Beine und konnte eine KV-Lehre abschliessen. Danach folgten Jahre, in denen ich oft krankgeschrieben war, mich unzählige Male bewarb. Ich hatte hohe Schulden und bezog Sozialhilfe. Schliesslich fasste ich in Arbeitsintegrationsprogrammen wieder Tritt und konnte im Verkauf quereinsteigen.

Neben deiner Angststörung lebst du ebenso mit ADHS. Wie wirkt sich das auf deinen Alltag aus?

Ich habe ein schlechtes Zeitgefühl und Mühe, mehrere Sachen gleichzeitig zu machen. Kochen fällt mir beispielsweise sehr schwer. Deshalb ernähre ich mich fast ausschliesslich von Fertigprodukten, die ich nur noch in den Ofen schieben muss. Leider ist das ungesund…

…stresst dich das?

Ja, das belastet mich.

Wie wirkt sich ADHS sonst noch auf dein Leben aus?

Ganz unterschiedlich. Während ich zuhause ziemlich chaotisch bin, kann ich mich bei der Arbeit sehr gut organisieren. Das braucht aber viel Energie. Daher schaffe ich es nicht, in einem 100-Prozent-Pensum zu arbeiten. Dafür fehlt mir die Kraft. Ebenso eine Herausforderung ist es für mich, mit Geld umzugehen. Ich habe kein Gefühl dafür, wie viel ich noch auf dem Konto habe und ob ich mir etwas leisten kann. Deshalb schaue ich regelmässig ins E-Banking, um mich nicht wieder zu verschulden. Gleichzeitig verzichte ich auf vieles.

«Ich schränke mich stark in der Freizeit ein, unternehme praktisch nichts, das etwas kostet.»

Auf was musst du alles verzichten?

Ich schränke mich stark in der Freizeit ein, unternehme praktisch nichts, das etwas kostet. Oder wenn mich die Kolleginnen und Kollegen bei der Arbeit fragen, ob ich ein Feierabendbier trinken komme, lehne ich ab. Das fällt mir schon schwer. Weil irgendwann fragen sie einem nicht mehr. Es gibt Zeiten, da macht mich das traurig, da fühle ich mich einsam und isoliert, weil ich kein Geld habe.

Wie war es denn für dich, als dich die Caritas und der KRSD unterstützt haben?

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich bin der Caritas wahnsinnig dankbar! Auch, weil ich sofort fühlte, dass man mich ernst nimmt. Als ich anrief, leitete man mich umgehend an die zuständige Person weiter, die mir erklärte, welche Unterlagen wie Lohnabrechnung, Miet- und Krankenkassenkosten ich einreichen muss. Es ging alles schnell und unkompliziert.

Was würdest du Personen raten, die sich in einer ähnlichen Lebenssituation befinden?

Sucht euch jemanden, mit dem ihr über eure Probleme sprechen könnt! Sich jemandem anzuvertrauen, ist extrem wichtig. Dafür muss man seine Scham überwinden. Es ist aber auch die Aufgabe der Gesellschaft, besser hinzuschauen und auf die Menschen zu achten, denen es nicht gut geht. Ein zweiter Ratschlag ist: Sucht euch professionelle Hilfe! Es ist keine Schande, Sozialhilfe zu beziehen, zur Caritas zu gehen oder eine Psychotherapie zu machen. Denn das hält die Menschen am Leben.

Hast du einen Wunsch für deine Zukunft?

Diese Frage finde ich schwierig zu beantworten. Das erinnert mich daran, wenn in Bewerbungsgesprächen gefragt wird, wo man sich in fünf Jahren sehe. Darauf habe ich keine Antwort. Ich nehme jeden Tag so, wie er kommt.

Gar keinen Wunsch?

Doch – ich war schon lange nicht mehr an einem Metal-Konzert. Aktuell höre ich gerne Currents und Bury Tomorrow. Auch an die Fantasy Basel, die Schweizer Comic-Convention, würde ich gerne wieder mal gehen.

*Name geändert

Weitere Informationen

Titelbild: Symbolbild © Caritas Schweiz