«Oft reichen die Gehälter nur für wenige Tage»

Fünf Fragen an Matthias Knoch, Caritas-Landesdirektor für die Venezuelakrise

Ende Juli stehen im bankrotten Venezuela Wahlen an. Die immense Versorgungskrise im Land hat die Menschen komplett verarmen lassen und über sieben Millionen in die Flucht getrieben. Benötigt werde neben Ernährungssicherheit vor allem Hoffnung, sagt Matthias Knoch. Er leitet das Caritas-Programm für die Betroffenen der Venezuelakrise von Bogotá aus.

Matthias Knoch, die Wahlen vom 28. Juli könnten gemäss Umfragen zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt die Macht der regierenden «Partido Socialista Unido» und von Präsident Nicolás Maduro gefährden.

Wie ist die Stimmung bei den Menschen?

Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, aber im Grundsatz ist die verarmte Bevölkerung resigniert. Die Menschen sind zermürbt, ausgebrannt und vielfach traumatisiert. Einst Bürgerinnen und Bürger des reichsten Lands Südamerikas, verloren sie in kürzester Zeit alles. Bürgerbewegungen oder Proteste mit Momentum sind daher keine zu erwarten. Es ist gut möglich, dass sich selbst mit einem Gewinn des Oppositionskandidaten nichts Wesentliches ändert.

Vor etwa drei Jahren sahen wir Bilder von verzweifelten Menschen vor leeren Regalen in Supermärkten. Wie ist die Versorgungslage in Venezuela heute?

Die Situation ist desolat. Die Bereitstellung eines Angebots in den Supermärkten funktioniert zwar wieder etwas besser. Die galoppierende und sprunghafte Inflation und die Tatsache, dass viele Produkte teuer importiert werden müssen, hat die Preise jedoch explodieren lassen. Sie sind so hoch, dass die Gehälter oft nur für wenige Tage reichen. Und was dann? Manche Ministerien bezahlen ihre Angestellten ein- bis zweimal die Woche in Naturalien wie Lebensmitteln oder anderen Gütern des täglichen Bedarfs. Eine Zweiklassengesellschaft hat sich herauskristallisiert: Wer keinen Zugang zum starken US-Dollar hat, kann sich kaum ernähren. Viele Kinder sind unterernährt und damit anfälliger für Krankheiten. Auch der Zugang zu Trinkwasser ist nicht gesichert. Das Gesundheitssystem existiert faktisch nicht mehr. So sterben Menschen an Krankheiten, die eigentlich einfach zu behandeln wären.

Matthias Knoch
«Eine Zweiklassengesellschaft hat sich herauskristallisiert: Wer keinen Zugang zum starken US-Dollar hat, kann sich kaum ernähren.»

Was tut Caritas Schweiz?

Über unsere Partnerorganisation Caritas Venezuela schliessen wir kritische Versorgungslücken. Caritas Venezuela verteilt Nahrungsmittelpakete und Wasserfilter an Haushalte mit mangelernährten Kindern und an ältere Personen. Denn es sind vor allem sie, die im Land verblieben sind – wer arbeitsfähig ist, hat Venezuela wenn möglich verlassen. Akut mangelernährte Kinder erhalten zudem Nahrungsergänzungsmittel. Ergänzt werden diese Verteilungen durch Schulungen über Ernährung und Hygiene.

Ein zweiter Schwerpunkt ist der Schutz von Menschen, die das Land verlassen (wollen). Das tun wir zum einen mit Informationskampagnen über die Realitäten, Risiken und Schutzmöglichkeiten auf einer Flucht. Zum anderen hilft die Caritas bei rechtlichen Abklärungen und leistet Einzelhilfe im Notfall. Darüber hinaus engagiert sich Caritas Schweiz in den Nachbarländern, um die Lebensbedingungen geflüchteter Venezolanerinnen und Venezolaner zu verbessern.

Das venezolanische Regime steht internationalen NGOs trotz des immensen Hilfsbedarfs der Bevölkerung äusserst kritisch gegenüber und schränkt ihren Zugang stark ein. Wie kann Caritas Schweiz dennoch Hilfe leisten?

Das ist möglich dank der Zusammenarbeit mit unserer lokalen Partnerorganisation. Caritas Venezuela ist enorm gut vernetzt und hat als praktisch einzige Organisation im Land Zugang zur notleidenden Bevölkerung, auch in Regionen, die selbst für die UNO nicht zugänglich sind. Das hängt auch damit zusammen, dass die Organisation als «Sozialdienst der Kirche» wahrgenommen wird, die bei Bevölkerung wie Regierung gleichermassen akzeptiert und respektiert ist. So bleiben Mitarbeitende von Caritas Venezuela grösstenteils verschont von den allgegenwärtigen Polizei- und Militärkontrollen und können Strassensperren einfacher passieren. Auch in den grössten Krisen wurden die Dollarkonten von Caritas Venezuela nicht gesperrt.

© Alexandra Wey

Sollten die Wahlen nichts am Status quo ändern: Wie kann die Bevölkerung mittelfristig am besten unterstützt werden?

Wir blicken einer Dauerkrise ins Auge. Es braucht Massnahmen, damit die Menschen besser auf eigenen Füssen stehen können. Im Austausch mit Caritas Venezuela prüft und entwickelt Caritas Schweiz weiterführende Projektmöglichkeiten. Unser Anliegen ist es, mit Einkommensförderung die Ernährungssituation zu verbessern. Zum Beispiel durch dezentralisierten Anbau von Lebensmitteln zur Selbstversorgung, mit urbanen Gärten oder mit Schülergärten zur Bekämpfung von Unterernährung bei Kindern. Denn die Böden sind fruchtbar. Gärten können gut auch von älteren Menschen bewirtschaftet werden.

Zudem kehren immer wieder Venezolanerinnen und Venezolaner zurück in ihre Heimat. Wenn es gelingt, sie gut zu reintegrieren und Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, sodass sie bleiben, ist das Potenzial riesig. Voraussetzung für den Erfolg solcher Beschäftigungsprogramme wäre jedoch, dass die Regierung sie unterstützt. Das ist heute nicht der Fall. Das Wichtigste ist: Die resignierten Menschen benötigen Hoffnung und Motivation. Es gilt, die gesellschaftlichen Selbstheilungskräfte zu aktivieren.

Darüber hinaus ist es gut möglich, dass sich Fluchtbewegungen vor allem Richtung Brasilien verstärken. Die Caritas wird darauf reagieren und ihre humanitäre Hilfe dem Bedarf anpassen können.

Geschrieben von Anna Haselbach, Projektverantwortliche Private Fundraising und Kommunikation, Caritas Schweiz

Matthias Knoch steht für Interviews zur Verfügung. Anfragen und weitere Informationen: medien@caritas.ch

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Titelbild: © Alexandra Wey