Neue Formen von Armut besser verstehen
Die Armut in der Schweiz nimmt zu. Wie lässt sich eine solche Entwicklung in einem so wohlhabenden Land erklären? Um prekäre Lebenssituationen wirksam bekämpfen zu können, ist es für die Caritas unabdingbar, die tieferliegenden Ursachen zu verstehen. Die Covid-Krise hat das Bewusstsein für die Problematik geschärft. Jetzt bewegt sich etwas: Im Kanton Waadt wurde eine Beobachtungsstelle für Prekarität (Observatoire des précarités) gegründet, viele Kantone führen heute mit Unterstützung von Caritas Schweiz ein Armutsmonitoring durch, und der Bund muss 2025 den ersten Bericht zum neuen nationalen Armutsmonitoring vorlegen.
Die Beobachtungsstelle für Prekarität im Kanton Waadt, die im Mai ihre Tätigkeit aufgenommen hat, soll in erster Linie ein besseres Verständnis neuer Formen von Armut ermöglichen. Die Stelle wurde von der Fachhochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit in Lausanne (HETSL) in enger Zusammenarbeit mit Caritas Waadt ins Leben gerufen und mit ihrer Hilfe sollen die Massnahmen von Gesundheits- und Sozialdiensten mehr Wirkung erzielen.
Die Situation ist alarmierend: Mit der Corona-Pandemie sind neue Formen von Armut entstanden und es hat sich gezeigt, dass im Zuge der Krise ganze Bevölkerungsgruppen durch das Auffangnetz im System der sozialen Sicherheit gefallen sind. Damit die betroffenen Personen von sozialstaatlichen Leistungen profitieren können, muss sich jedoch der gesetzliche Rahmen ändern. Caritas Waadt und das Protestantische Sozialzentrum im Kanton Waadt forderten daher im Herbst 2020 die Schaffung einer Beobachtungsstelle für Prekarität, die mittlerweile ihre Tätigkeit aufgenommen hat.
Allzu oft vergessene Gegebenheiten
«Mithilfe der Beobachtungsstelle lassen sich künftig allzu oft vergessene Gegebenheiten wie die Lebenssituation und der Lebensverlauf von Sans-Papiers oder Obdachlosen gezielt erfassen», betont Olivier Cruchon, Leiter der Sozialberatung der Caritas Waadt. «Wir hoffen, dass sich auf politischer Seite dank des wissenschaftlichen Inputs etwas bewegen lässt und die kantonalen Dispositive entsprechend angepasst und ausgestattet werden.»
Ziel der Beobachtungsstelle ist es, die verschiedenen Erscheinungsformen von Prekarität zu dokumentieren, um schliesslich die zugrundeliegenden Ursachen besser zu verstehen. Angesichts eines sich verändernden Umfelds gilt es aber auch, die Massnahmen zu evaluieren und diejenigen zu unterstützen, die in direktem Kontakt mit Menschen in einer wirtschaftlich schwierigen Lage sind. Dabei sollen der während der Pandemie entstandene Geist des Dialogs aufrechterhalten und die Wissenschaft mit den Akteuren im Gesundheits- und Sozialwesen an einen Tisch gebracht werden. Zudem möchte die Beobachtungsstelle auch Direktbetroffenen Raum bieten, sich einzubringen.
Solide Datengrundlage unerlässlich
«Die Beobachtungsstelle ermöglicht eine ganzheitliche Sichtweise, und der Versuch, verschiedene Akteure, die sich mit dem Thema Armut auseinandersetzen, in einen Dialog einzubinden, ist ein sehr
interessanter Ansatz», so Aline Masé, Leiterin der Fachstelle Sozialpolitik bei Caritas Schweiz. Eine solche Konstellation ergänzt die von Caritas unterstützten Armutsmonitorings, die in mehreren Kantonen aufgebaut werden. Diese Monitorings erlauben eine qualitativ äusserst hochwertige Datenerhebung. Diese ist unerlässlich, um sich dem Phänomen Armut annähern und die richtigen Massnahmen treffen zu können. Anhand solcher Daten lässt sich feststellen, wer welche Hilfe benötigt. Zudem lassen sich so auch bestimmte Unzulänglichkeiten des Sozialsystems erkennen (zum Beispiel Nichtbezug von Sozialhilfe trotz Anspruchsberechtigung).
Heilsame Erkenntnis
Rund die Hälfte der Kantone führt heute ein Armutsmonitoring durch. «Die Ergebnisse fallen von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich aus, die Qualität der Berichte ist nicht überall gleich gut, und den gesammelten Daten mangelt es mitunter an Genauigkeit», sagt Aline Masé. «Der Kanton Wallis ist sehr interessiert. Basel-Landschaft setzt unser Monitoring als erster Kanton um und publiziert dieses Jahr einen ersten Bericht nach unserem Modell.»
«Die Covid-Krise brachte neue Erkenntnisse», meint Aline Masé weiter. Es zeigte sich, dass Personen, die ihren Lebensunterhalt bisher immer ohne staatliche Hilfe gesichert haben, (zum Beispiel Selbstständigerwerbende), plötzlich in ernsthafte finanzielle Not geraten konnten. Etwas, das man vor der Krise so nicht kannte. Kantone und Gemeinden sind sich heute bewusst, dass sie sich auf solche Situationen vorbereiten müssen.
Nationales Monitoring
Auch auf nationaler Ebene wuchs das Bewusstsein für die Problematik. So hat das Parlament dem Bundesrat den Auftrag erteilt, ein nationales Armutsmonitoring einzurichten und der Bundesversammlung alle fünf Jahre Bericht zu erstatten. Denn es besteht dringender Handlungsbedarf: Seit 2014 ist die Armut weiter gestiegen, und 2020 waren rund 722'000 Menschen in unserem Land von Armut betroffen.
«Es handelt sich hierbei um ein sehr interessantes Konzept», betont Aline Masé. «Das Monitoring ist sehr umfassend und betrachtet Armut aus verschiedenen Perspektiven.» Darüber sollen Bund, Kantone und Gemeinden Steuerungswissen erhalten. Das Monitoring untersucht die Lage der Bevölkerung, identifiziert Risikogruppen und zeigt auf, wie sich die Armut im Verlauf der Zeit entwickelt. Ferner beschreibt es, mit welchen Strategien Armut bekämpft wird und was über deren Wirksamkeit bekannt ist.
Das nationale Armutsmonitoring befindet sich in der Aufbauphase, und die Veröffentlichung des ersten Monitoringberichts ist für Ende 2025 geplant. Die Schweiz sollte somit ein besseres Verständnis von Armut erlangen und diese folglich auch wirksamer bekämpfen können.
Geschrieben von Vérène Morisod
Titelbild: © Dominic Wenger