Ist der Kuchen richtig verteilt?

Jubiläumsausgabe des Sozialalmanachs fragt nach Armut und sozialer Ungleichheit in der Schweiz

Ungleichheit ist in der Schweiz omnipräsent: Die Vermögen sind fast nirgends so konzentriert wie hierzulande. Gleichzeitig werden sie kaum besteuert. Über den Reichtum wird gesellschaftlich wenig diskutiert. Der Sozialalmanach von Caritas Schweiz stellt in der 25. Ausgabe die Frage, wie Armut und Ungleichheit zusammenhängen. 18 Beiträge ausgewiesener Expertinnen und Experten analysieren auf der Basis belegter Zahlen und Fakten die Situation und schlagen Lösungen vor.

Teuerung überall: Bei der Energie, bei den Krankenkassenprämien, bei den Mieten. In der Schweiz sind Hunderttausende armutsbetroffen oder armutsgefährdet. Eine Stromrechnung, eine Erhöhung der Miete, eine einzige Sonderausgabe, und das Budget gerät aus der Balance. Oft trifft es Familien und Alleinerziehende mit Kindern. Was aber haben die materiellen Existenzsorgen der einen mit dem Reichtum, besonders der extremen Vermögenskonzentration, bei den wenigen Anderen zu tun? Wie gross ist die soziale Ungleichheit in der Schweiz tatsächlich und wo zeigt sie sich konkret? Welche Rolle spielen der Staat und die Finanzierungsmechanismen des sozialen Ausgleichs mittels Steuern und Sozialpolitik? Welche Rolle haben (frühkindliche) Bildung, Herkunft, Geschlecht oder der Aufenthaltsstatus in Bezug auf die Chancengleichheit? Wo wird oder sollte der Hebel angesetzt werden, um die frappante Ungleichheit abzubauen? Braucht es dazu ein neues Gesellschaftsmodell und ein anderes Verständnis bezahlter und unbezahlter Arbeit? Im neuen Sozialalmanach von Caritas Schweiz analysieren Expertinnen und Experten in 18 Beiträgen diese Fragen – und liefern Antworten.

Ist die Schweiz «feudal»?

Die soziale Ungleichheit wird in der Schweiz vor allem durch Umverteilung mittels Sozialleistungen reduziert. Die Vermögen, insbesondere die jährlich anfallenden riesigen Erbschaftsvolumen, werden hingegen kaum besteuert. Hier liegt eine verpasste Chance für effektive Massnahmen, wie etwa die Ökonomen Marius Brülhart und Oliver Hümbelin unterstreichen. Auch Michael Graff und Ueli Mäder orten eine «Refeudalisierung der Schweiz», die viel zu wenig diskutiert wird. Diesem Blick auf die Ungleichheit am oberen Ende der Skala setzen verschiedene Autorinnen und Autoren im Buch den Blick von unten entgegen. Hier gilt es, den Fokus besonders auf eine effektivere Familienpolitik zu legen, denn: Die Schweiz hinkt in Sachen Gleichstellung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf nach wie vor hinterher, und das zeigt sich nicht zuletzt an den Gruppen, die besonders von der ungleichen Verteilung materieller und sozialer Ressourcen betroffen sind. Carola Togni beschreibt in ihrem Beitrag die Geschichte der Sozialversicherungen unter dem Aspekt der Familien- und Rollenbilder. Carlo Knöpfel diskutiert neue Dimensionen der Ungleichheit in den Auswirkungen der Klimakrise auf Wohnverhältnisse und Gesundheit verschiedener sozialer Schichten.

Ungleichheit: Eine Gefahr für Chancengerechtigkeit und Demokratie

Nebst konkreten politischen Massnahmen nimmt der neue Sozialalmanach auch die grundlegenden gesellschaftspolitischen Fragen in den Blick: Welche Arbeit gilt als wertvoll? Wieso ist die Ungleichheit bei den Renten von Männern und Frauen in den wichtigen Sozialversicherungen (Stichwort: Gender Pension Gap) nach wie vor derart gross? Und auf welchen gesellschaftlichen Vorleistungen (Wissensproduktion, Bildung, Infrastruktur, Gesundheitswesen) beruhen eigentlich die grossen Vermögen und die hohen Einkommen – denn klar ist: Exorbitante Einkommen etwa in der Finanzindustrie lassen sich nicht durch Produktivität oder den «Markt» erklären, sondern nur durch dessen Versagen. Das zeigt sich in den schlecht entlöhnten systemrelevanten Berufen wie der Pflege am deutlichsten.

Es stellen sich auch demokratiepolitische Fragen: Ist eine Gesellschaft mit einem derart hohen Mass an materieller Ungleichheit stabil genug, um die anstehen riesigen Herausforderungen der Transformation in eine erneuerbare und nachhaltige Zukunft zu meistern? Oder wird die demokratiepolitische Auseinandersetzung durch finanzstarke Kampagnen ausgehöhlt? Mit der 25. Ausgabe des Sozialalmanachs greift Caritas Schweiz die zentralen gesellschaftlichen Fragen der Armutsbekämpfung in der Schweiz auf: Denn diese kann nie nur Hilfe in Not für Armutsbetroffene sein – der Umgang mit den Schwächsten der Gesellschaft verweist immer auch auf die enormen Reichtümer, die andernorts anfallen. Und stellt damit die Frage der Gerechtigkeit.

Angaben zum Buch:

«Ungleichheit in der Schweiz». Sozialalmanach 2023, Caritas Schweiz, Preis: 36 Franken, ISBN Print: 978-3-85592-193-5; auch als E-Book erhältlich, ISBN 978-3-85592-194-2. Rezensionsexemplare können bestellt werden unter shop@caritas.ch

Geschrieben von Fabian Saner