Einblicke in das Leben eines ehemaligen Pflegekindes
Alexandra Felder lebte als Pflegekind in den 1970er Jahren in verschiedenen Pflegefamilien und Institutionen. Daran hat sie nicht nur gute Erinnerungen. Heute wäre ihre Geschichte vermutlich eine andere. Ihr Buch «obladi oblada - Mein Leben dank Augusta», geschrieben von ihrem Partner Jürg Hugentobler, half ihr bei der Verarbeitung der Erlebnisse.
Herr Hugentobler, was hat Sie dazu bewogen das Buch «obladi oblada – Mein Leben dank Augusta» zu schreiben?
Meine Partnerin Alexandra hatte eine bewegte Kindheit als Pflegekind und viele Ereignisse konnten wir chronologisch nicht einordnen. Wir wollten das Durcheinander in ihrer Kindheit besser verstehen. Das Schreiben des Buchs half uns, etwas Ordnung in die Erinnerungen zu bringen und die Erfahrungen zu verarbeiten. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit war einerseits heilsam, führte aber auch dazu, dass alte Wunden wieder aufbrachen.
Gab es persönliche Erfahrungen oder Ereignisse, die Ihre Motivation beeinflusst haben?
Einerseits wollte ich meine Partnerin bei der Bewältigung ihrer Vergangenheit unterstützen. Andererseits war es mir wichtig, Unklarheiten aus ihrer Kindheit zu beseitigen und Wissenslücken zu schliessen.
Gab es besondere Herausforderungen oder überraschende Erkenntnisse während des Schreibprozesses?
Um Alexandras Platzierungen bei Pflegefamilien und Institutionen nachzuverfolgen, mussten wir Informationen aus Behördenarchiven beschaffen. Dies sollte uns helfen, die verschiedenen Stationen zeitlich einzuordnen und besser zu verstehen. Es war eine grosse Herausforderung, an diese Informationen zu gelangen. Einmal äusserte eine Person an einem Schalter Besorgnis, dass unsere Recherche zur Vergangenheit von Alexandra jemandem schaden könnte. Die Aussage traf Alexandra sehr, weil sie ja das Opfer war.
Wie haben Leserinnen und Leser auf «obladi oblada» reagiert? Gibt es Rückmeldungen oder Geschichten von Leserinnen oder Lesern, die Sie besonders berührt haben?
Die Rückmeldungen der Leserinnen und Leser waren durchwegs positiv. Darunter waren ehemalige Pflegekinder, die sich durch die Geschichte gestärkt und verstanden fühlten. Es gab auch Personen, die durch das Lesen des Buchs ermutigt wurden, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Eine Geschichte ist uns besonders im Gedächtnis geblieben: Eine Dame aus dem Eigenthal wollte uns unbedingt eine Rückmeldung zum Buch geben, kannte aber unsere Adresse nicht. Sie ging zur Post im Obernau, um unsere Kontaktinformationen zu ermitteln. Datenschutzgründe verhinderten dies, aber die Postangestellte war bereit, den vorfrankierten Brief ohne Adresse anzunehmen und trotzdem zuzustellen. Wir waren überwältigt von dem Engagement der Leserin und haben daraufhin Kontakt mit ihr aufgenommen. Der Austausch und ihre freundlichen Worte haben uns sehr berührt.
Frau Felder wie lange waren Sie bei Ihrer Pflegefamilie?
Ich verbrachte meine ersten drei Lebensjahre in einem Säuglingsheim, bevor ich zu meiner Pflegemutter Augusta ins Eigenthal kam. Dort konnte ich bis zur vierten Klasse bleiben und habe mich zum ersten Mal geborgen und zuhause gefühlt. Leider entschieden dann mein «Götti» und meine Mutter gegen meinen Willen, dass ich bei einer anderen Familie untergebracht werden sollte, weil meine Bindung zur Pflegemutter zu stark wurde. So kam ich zu einer Pflegefamilie in der benachbarten Gemeinde Kriens, wo ich jedoch nicht richtig Fuss fassen konnte.
Warum wurden Sie in einer Pflegefamilie untergebracht? Möchten Sie uns etwas über Ihre familiäre Situation erzählen, die zu dieser Entscheidung geführt hat?
Mein Vater war dreissig Jahre älter als meine Mutter. Wie ich als erwachsene Frau herausgefunden habe und eigentlich schon immer vermutet hatte, war tatsächlich mein «Götti» mein leiblicher Vater. Offiziell anerkannt hat er dies nie und er hatte deshalb auch kein Sorgerecht. Trotzdem hatte er grossen Einfluss auf meine Mutter und war die Person, welche die Entscheidungen getroffen hat. Und so fiel auch der Entscheid, dass ich nicht bei meinen leiblichen Eltern aufwachsen sollte.
Wie war die Beziehung zu Ihren Pflegefamilien? Wie hat sie geendet?
Die Beziehung zu meiner Pflegemutter Augusta und ihrer Familie war die schönste Zeit meiner Kindheit. Endlich durfte ich erfahren, was Geborgenheit und Wärme bedeuteten. Ich hatte ein richtiges Zuhause. Bei der zweiten Pflegefamilie im Obernau war ich nur kurz, da ich meine Pflegemutter Augusta zu sehr vermisste und mich in der neuen Pflegefamilie nicht richtig integrieren konnte. So kam ich zu meiner leiblichen Mutter, bevor ich ins Internat und dann in ein Kinder- und Jugendheim wechselte.
Was sind die prägendsten Erinnerungen, die Sie aus Ihrer Zeit in der Pflegefamilie mitgenommen haben?
Es waren einfache Dinge, die für mich damals nicht selbstverständlich waren und dazu führten, dass ich mich zum ersten Mal zuhause fühlte: regelmässige Mahlzeiten, ein eigenes Bett, Geborgenheit, Wärme und Aufmerksamkeit. Diese Dinge machten mich glücklich. Auch die Pferde einer Nachbarin bleiben mir in guter Erinnerung. Ich verbrachte viele Stunden mit Reiten und der Tierpflege und sie halfen mir oft über schwierige Zeiten hinweg.
Gibt es Momente, die für Sie besonders positiv und bedeutsam waren?
Als es mir mit 14 Jahren aufgrund der vielen Wechsel der Pflegefamilien und Institutionen schlecht ging und ich nicht mehr weiterwusste, schrieb ich einen Brief an die Vormundschaftsbehörde. Ich wollte einen Beistand zur Unterstützung. Zu meiner Verwunderung wurde meine Anfrage ernst genommen und es wurde mir ein Sozialarbeiter als Beistand zugeteilt, um den ich heute noch dankbar bin. Er half mir bei vielen Problemen und administrativen Belangen und konnte auch meinem «Götti» Gegenwehr geben, wenn dieser wieder Entscheidungen treffen wollte, die nicht in meinem Interesse waren.
Welche Herausforderungen haben Sie während Ihrer Zeit in der Pflegefamilie erlebt? Wie sind Sie damit umgegangen?
Es gab von aussen einen stetigen Druck und Aussagen von Personen, vor allem von meinem Vater, dass ich doch eigentlich bei meiner leiblichen Mutter leben müsste. Dabei wollte ich nur bei meiner Pflegemutter Augusta leben, wo ich mich geborgen und zuhause fühlte. Dies wurde mir aber durch meine leiblichen Eltern verwehrt. Bei der Pflegefamilie im Obernau und in Institutionen stellte sich bei mir oft das Gefühl ein, nicht zu genügen.
Mit meinem Antrag für einen Beistand, erhoffte ich mir Unterstützung und Ordnung in mein Leben zu bringen, was zum Glück gelang.
Wie hat die Pflegeerfahrung Ihr Leben geprägt? Welche langfristigen Auswirkungen hat sie auf Ihre Persönlichkeit, Ihre Beziehungen und Ihre Lebensziele?
Als Pflege- oder Heimkind wurde man früher in der Schule leider oftmals benachteiligt und anders behandelt. Sätze wie «Du schaffst das eh nicht, du bist zu blöd», nagen auch nach vielen Jahren noch an mir. Das hat sich so stark manifestiert, dass ich nach wie vor unter starker Prüfungsangst leide. Ich konnte aus diesem Grund nie die Ausbildung machen, die ich gerne gemacht hätte. Ich habe zwar die Lehrzeit als Tierarztgehilfin absolviert, jedoch nie eine Abschlussprüfung gemacht. Diese Angst begleitet mich weiterhin und durch die fehlenden Diplome, sind mir einige Karriere-Türen verschlossen geblieben. Ich kann jedoch mit Stolz auf einen Abschluss zurückblicken. Vor ein paar Jahren habe ich die Jagdprüfung abgelegt und bestanden.
Gab es Unterstützungssysteme oder Beratungsstellen, die Ihnen während Ihrer Zeit in der Pflegefamilie geholfen haben? Wenn ja, wie haben sie Ihnen geholfen?
Damals hatte ich weder ein Unterstützungssystem noch Zugang zu Beratungsstellen, die mir bei meinen Problemen geholfen hätten. Erst mit meinem eigenen Antrag für einen Beistand im Alter von 14 Jahren, erhielt ich endlich Hilfe und Unterstützung.
Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen in Pflegefamilien und der mangelnden Unterstützung, arbeite ich heute als Care-Arbeiterin. Hier kann ich meine Erfahrungen einbringen und andere Personen unterstützen. Ich weiss, wie schmerzhaft es sein kann, allein zu sein, und wie wichtig es ist, in den dunkelsten Stunden Unterstützung zu erhalten.
Hat es Themen gegeben, die Sie gerne mit einer professionellen Stelle besprochen hätten?
Das ständige Hin und Her, die kontinuierliche Entwurzelung wie auch die Trennung von meiner geliebten Pflegemutter Augusta beschäftigten mich sehr. Auch beim komplizierten Verhältnis zu meinen leiblichen Eltern, wäre ich um Unterstützung froh gewesen. Nur schon jemanden zu haben, um über Gefühle zu sprechen, wäre für mich sehr wertvoll gewesen.
Hatten Sie weiterhin Kontakt zur leiblichen Familie?
Zu meiner leiblichen Mutter hatte ich bis zu ihrem Tod im Jahr 1985 sporadischen Kontakt. Der Kontakt zu meinem «Götti», also meinem leiblichen Vater, brach danach vollständig ab und wurde bis zu seinem Tod im Jahr 1987 nicht wiederhergestellt.
Was möchten Sie anderen Pflegekindern mitteilen, die möglicherweise ähnliche Erfahrungen machen?
Meine Situation vor fünfzig Jahren kann man nicht mehr mit der heutigen Zeit vergleichen. Was aber aus meiner Sicht von grösster Bedeutung sein sollte, ist, dass Kinder ihre Bedürfnisse mitteilen können und diese auch ernst genommen werden. Seien es Bedürfnisse nach Geborgenheit, Nähe, Distanz oder Unterstützung. Es ist heutzutage vermutlich einfacher Hilfe einzufordern und man sollte sich nicht davor scheuen, diese auch zu beanspruchen.
Wichtig finde ich auch, dass man sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt. Mir hat es geholfen, Erlebnisse und Erfahrungen zu verarbeiten. Aber natürlich hat jede und jeder seine eigenen Wege, Erlebtes zu verarbeiten.
Gibt es Aspekte des Pflegesystems, die Ihrer Meinung nach verbessert werden könnten, um die Erfahrungen von Pflegekindern zu unterstützen?
Das kann ich nicht ausreichend beurteilen, aber ich bin froh, dass es heute viel mehr Kontrollmechanismen und Unterstützungsstellen gibt. Ich bin dankbar, dass Organisationen wie die Caritas-Familienplatzierung Pflegefamilien und Pflegekinder professionell betreuen und begleiten.
Was sind Ihre aktuellen Pläne und Ziele für die Zukunft?
Ich suche eine bezahlte Care-Arbeit, um meine derzeitige berufliche Tätigkeit zu ergänzen. Dabei möchte ich meine Stärken in der Betreuung und im Umgang mit Menschen einbringen. Mein Ziel ist es, mit meinen persönlichen Erfahrungen Kinder und Erwachsene zu unterstützen.
Zudem habe ich den Wunsch nach meinen eigenen vier Wänden noch nicht aufgegeben. Es ist ein Traum von mir, eine eigene Wohnung zu besitzen. Mein eigenes «Nest», wo ich Wurzeln schlagen kann und mich niemand mehr umplatzieren kann.
Das Interview führte Patrick Bisch, Verantwortlicher Marketing bei Caritas Schweiz.