

«Hoffnung ist ein Luxus, den sich nur wenige leisten können»
Im Kampf zwischen den israelischen Streitkräften und der libanesischen Hisbollah leidet in erster Linie die Zivilbevölkerung. Weit mehr als eine Million Menschen ist auf der Flucht. Rund 425’000 Frauen, Kinder und Männer versuchen, der Gewalteskalation im Libanon zu entkommen, indem sie nach Syrien fliehen. Hadi Nasser arbeitet in Damaskus für Caritas Schweiz und beschreibt die Situation.
Hadi Nasser, wer sind die Menschen, die vom Libanon ins kriegsgebeutelte Syrien fliehen?
Zum einen sind es libanesische Familien, Frauen, Kinder und ältere Menschen, die in den südlichen Regionen nahe der israelischen Grenze und in Beirut lebten. Dazu kommen Syrerinnen und Syrer, die vor Jahren aus ihrem Land in den Libanon geflohen waren. Nun kehren sie nach Syrien zurück, obwohl die Sicherheitslage dort weiterhin höchst instabil ist.
Was brauchen die Geflüchteten jetzt am dringendsten?
Besonders wichtig sind Unterkünfte. Aber weite Teile Syriens sind durch den seit 13 Jahren schwelenden Krieg nach wie vor verwüstet, ganze Stadtviertel liegen in Trümmern, so dass Geflüchtete und Rückkehrende grosse Mühe haben, eine sichere und zahlbare Unterkunft zu finden. Auch Unterernährung ist bereits heute ein Problem, insbesondere für Kinder, schwangere Frauen und ältere Menschen. Darüber hinaus brauchen die Menschen Zugang zu sauberem Wasser, Strom, sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung – aber das ist eine erhebliche Herausforderung.
Die Sozialgefüge Syriens ist durch 13 Jahre Krieg geschwächt. Was bedeutet der Zustrom von Geflüchteten für das Land?
Die syrische Wirtschaft liegt durch mehr als ein Jahrzehnt Krieg, internationale Sanktionen und die finanzielle Instabilität am Boden. Schon jetzt leben mehr als 90 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und die aktuellen Entwicklungen könnten diese Probleme noch verschärfen. Vor allem das Gesundheitssystem ist bereits jetzt unterfinanziert und für einen plötzlichen Bevölkerungszuwachs schlecht gerüstet. Zudem ist zu befürchten, dass die Ankunft von libanesischen und syrischen Flüchtlingen den Wettbewerb um die knappen Beschäftigungsmöglichkeiten verschärft und zu sozialen Spannungen zwischen Einheimischen, Rückkehrenden und Geflüchteten führt.
Kommen die humanitären Organisationen an ihre Grenzen?
Syrien ist in hohem Masse auf internationale Hilfe angewiesen. Jetzt müssen die humanitären Organisationen handeln und auch den zusätzlich entstandenen Bedarf decken. Doch die Mittel sind aufgrund der Konzentration auf andere Krisen in verschiedenen Regionen der Welt und der Prioritätensetzung knapp. Ein Aspekt, der uns grosse Sorgen bereitet, betrifft die internationalen Finanztransfers für Syrien, die weitgehend über libanesische Banken laufen. Verzögerungen oder Beschränkungen der Finanzströme könnten die Bereitstellung von Hilfsgütern verlangsamen und die ohnehin schon schwierige humanitäre Lage weiter verschlechtern.
Was tut die Caritas in Syrien, um den Menschen aus dem Libanon zu helfen?
Wir leisten im Rahmen des Möglichen Grundversorgung durch Sachleistungen und Nahrungsmittel sowie psychosoziale Unterstützung in verschiedenen Unterkünften. Gleichzeitig bewertet die Caritas mit ihren Partnern vor Ort die Situation, um Lücken besser zu erkennen und angesichts der ständigen Veränderungen im Umfeld und der Flüchtlingsbewegungen angemessen reagieren zu können.
Wie erleben Sie persönlich das Land in dieser Krise?
Die Situation in Syrien ist heute durch eine komplexe Mischung aus Widerstandsfähigkeit, Angst und tiefer Erschöpfung gekennzeichnet. Trotz des anhaltenden Zustroms von Geflüchteten aus dem Libanon zeigt die syrische Bevölkerung eine unglaubliche Solidarität mit den Betroffenen und teilt trotz knapper Ressourcen das Wenige, was sie haben.
Dieser Geist der Solidarität wird jedoch durch den immensen Stress, unter dem die Bevölkerung steht, gedämpft. Die Menschen in Syrien sind emotional ausgelaugt und in einem nicht enden wollenden Kreislauf von Krisen gefangen. Nach Jahren des Krieges, der wirtschaftlichen Zerstörung, der Naturkatastrophen und nun der Sorge um einen neuen regionalen Konflikt ist Hoffnung ein Luxus, den sich nur wenige leisten können. Viele haben nicht nur ihr Zuhause und ihre Lebensgrundlage verloren, sondern auch ihr Gefühl von Stabilität und Sicherheit. Dieses kumulative Trauma schwächt bei unzähligen Menschen den Willen, weiterzumachen.
Für viele Syrerinnen und Syrer ist das Leben zu einem Überlebenskampf geworden. Die einst pulsierende Gesellschaft voller Träume und Ambitionen steht nun vor der Herausforderung, jeweils den nächsten Tag zu überstehen – ahnend, dass die Welt einfach zuschaut und dies auch weiterhin tun wird. Viele Syrerinnen und Syrer sind enttäuscht, weil sie die Doppelmoral der Weltöffentlichkeit spüren. Wäre dies anderswo der Fall, hätte die Welt mit viel grösserer Dringlichkeit reagiert. Doch dem Leiden in Syrien wird oft mit Schweigen begegnet.
Geschrieben von Livia Leykauf, Leiterin Kommunikation, Caritas Schweiz
Interviewanfragen und weitere Informationen: medien@caritas.ch
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Titelbild: Im kriegsgebeutelten Syrien sind viele Gebäude zerstört, doch gerade Unterkünfte werden dringend für die zahlreichen geflüchteten Menschen benötigt. © Hasan Belal