Flucht vermeiden? Was in der aktuellen Debatte fehlt

Kontroverse um Bekämpfung von Fluchtursachen

Jedes Jahr fliehen tausende Menschen nach Europa und in die Schweiz. In der breiten Bevölkerung herrscht Einigkeit: Die Ursachen sind «hausgemacht» und die Entwicklungszusammenarbeit kann die Probleme vor Ort beheben. Doch das greift viel zu kurz.

Die Zahl der Menschen, die weltweit vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen müssen, war noch nie so hoch wie heute. Laut dem UNHCR sind aktuell über 100 Millionen Menschen auf der Flucht. Was tun, um die Fluchtursachen zu bekämpfen?

Laut einer Umfrage des deutschen «Meinungsmonitors Entwicklungspolitik» herrscht in der breiten Bevölkerung die Meinung vor, dass die Fluchtursachen mit Entwicklungspolitik vor Ort bekämpft werden können. Selbst Personen aus dem rechten Lager, die entwicklungspolitische Massnahmen häufig ablehnen, stimmten diesem Motiv zu. Doch was genau unter Entwicklung, Entwicklungspolitik und deren Zielsetzung verstanden wird, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Aktuell: Ursachen lediglich vor Ort angehen

Diese Kontroverse lässt sich bis in die 1980er-Jahre zurückverfolgen. So wurden die Fluchtursachen in westlichen Staaten ausschliesslich in den Herkunftsländern von Geflüchteten verortet. Länder des Globalen Südens wiederum machten das asymmetrische Nord-Süd-Verhältnis und damit historische und strukturelle Ursachen für Fluchtmigration verantwortlich.

2015 erreichte die Kontroverse einen Höhepunkt, als es grosse Fluchtbewegungen nach Europa gab. Die EU und mit ihr die Schweiz reagierten mit Abschreckung und Abschottung: Stärkere Kontrollen an den Aussengrenzen und Verschärfungen des Asylrechts waren eine Folge. Zudem wurden entwicklungspolitische Gelder eingesetzt und privatwirtschaftliche Investitionen in den Herkunftsländern gefördert, um die Ursachen für Flucht vor Ort zu bekämpfen.

Dieses vorherrschende Verständnis von Fluchtursachenbekämpfung ist vor allem durch zwei Elemente charakterisiert. Zum einen konnten konservative und rechte Kräfte ihrem Anliegen Geltung verschaffen, wonach die Bekämpfung von Fluchtursachen ein effektives Mittel zur Verhinderung weiterer Ankünfte von Schutzsuchenden in Europa sei. Zum anderen lässt sich feststellen, wie Fluchtursachen externalisiert, also ausgelagert werden: Das gilt sowohl für das neoliberale Anliegen, Bleibeperspektiven durch privatwirtschaftliche Investitionen vor Ort zu schaffen, als auch für die Vorstellung, Entwicklungsprojekte in den Herkunftsländern könnten dies bewirken.

Künftig: Nord-Süd-Verhältnis überdenken

Vor allem NGOs, kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Vertreterinnen und Vertreter linker und grüner Parteien kritisieren diese wirkungsmächtige Perspektive auf Fluchtursachenbekämpfung und die damit einhergehende Ausrichtung der Entwicklungspolitik. Anstatt die Ursachen von Flucht tatsächlich zu beheben, diene sie lediglich der Bekämpfung von Fluchtbewegungen selbst.

Ihre Forderung: Wer Fluchtursachen bekämpfen wolle, müsse diese immer auch im Kontext des Nord-Süd-Verhältnisses analysieren und dieses politisch adressieren. Was es brauche, sei eine sozialökologische Transformation und Massnahmen gegen ungerechte globale Abhängigkeitsverhältnisse, etwa in der Handels-, Klima- oder Agrarpolitik.

In diesen Forderungen zeigt sich ein anderes Verständnis von Entwicklung und Entwicklungspolitik, als in dem aktuell vorherrschenden. Anstatt lediglich auf Entwicklungsprojekte im Sinne helfender Interventionen von aussen zu setzen, zielt die hier vertretene Position auf die Mitgestaltung der globalen Rahmenbedingungen von «Entwicklung» ab.

Notwendig ist also ein Umdenken. Wenn die Fluchtursachen effektiv bekämpft werden sollen, dann braucht es einerseits das Recht auf sichere und würdevolle Lebensverhältnisse an jedem Ort – das Recht, nicht gehen zu müssen und bleiben zu können. Andererseits braucht es das Recht, zu gehen, und zwar selbstbestimmt und auf gefahrenfreien Wegen.

Geschrieben von Judith Kopp, Dr. rer. Pol., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel*

Interviewanfragen und weitere Informationen: medien@caritas.ch

*Dieser Text ist eine Kurzfassung des Beitrags «Kontroverse Fluchtursachenbekämpfung» von Judith Kopp im Almanach Entwicklungspolitik 2024. Der Sammelband analysiert umfassend aktuelle Phänomene der globalen Migration und präsentiert Lösungen der Internationalen Zusammenarbeit. Die Vernissage für den Almanach ist am 21. September in Bern. Das Buch ist unter www.shop.caritas.ch erhältlich, für ein Rezensionsexemplar melden Sie sich unter medien@caritas.ch.

Weitere Informationen