«Faire Bedingungen in der Live-in-Betreuung – gemeinsam gestaltet»

Über die Erarbeitung eines neuen Modells für die Betreuung zuhause.

Eine breit aufgestellte Projektgruppe arbeitet an einem neuen Modell für die Live-In-Betreuung. Das Projekt «FairCare@Home» soll für faire Arbeitsbedingungen für Care-Migrantinnen und Care-Migranten, sowie für eine qualitativ gute Betreuung zuhause sorgen. Ebenso steht die faire Verteilung der Aufgaben zwischen allen involvierten Personen und Organisationen im Fokus. Caritas Care ist als Praxispartner mit dabei. Karin van Holten, Co-Leiterin des Projekts gibt Auskunft.

Sie forschen bereits seit Jahren im Bereich der Betreuung zuhause. Wie sind Sie zum Projekt «FairCare@Home» gekommen?

Meine Partnerinnen und Partner von Public Health Services sind auf mich zugekommen, weil sie beide Angehörige waren, die eine Lösung für ihre Situation gesucht haben und dabei auf die sogenannte «24-Stunden-Betreuung» gestossen sind. Ich selbst komme aus der Forschung über Angehörige und deren Herausforderungen und kannte deshalb das Phänomen bereits. Angehörige versprechen sich aus dem Modell Unterstützung und auch eine Vereinfachung der Situation. Sie möchten möglichst eine Lösung aus einer Hand, was nur bedingt möglich ist.

Sie sprechen im Projekt von Live-In-Betreuung und nicht von 24-Stunden-Betreuung. Wieso?

Wir sprechen absichtlich nicht von 24-Stunden-Betreuung, sondern von Live-In-Betreuung.  Wir betonen damit, dass die Betreuungspersonen im gemeinsamen Haushalt mit der betreuten Person leben. Es geht jedoch nicht um eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, weil diese mit dem Arbeitsgesetzt nicht konform ist. Das ist zentral.

Das Live-In-Modell ist sehr umstritten. Gegnerinnen und Gegner sagen, dass die Betreuungspersonen ausgebeutet werden (zu lange Arbeitszeiten, keine Freizeit, hohe Belastung, geringer Lohn). Sollten wir das Modell nicht einfach verbieten?

Die Realität ist, dass es das Modell gibt. Die Nachfrage und das Angebot sind auf dem Markt bereits vorhanden. Es ist einerseits ein Bedürfnis vieler ältere Menschen in der Schweiz möglichst lange zuhause in den eignen vier Wänden zu leben. Gleichzeitig ist es eine bewährte Strategie von Betreuungspersonen aus osteuropäischen Ländern, Arbeit in westeuropäischen Ländern zu suchen. Uns ist klar, dass es letztlich auf einer globalen Situation der Ungleichheit beruht. Aber: Es hat keinen Sinn das Modell zu verbieten, weil dies meiner Meinung nach zu einem grösseren Schwarzmarkt führt. Je unsichtbarer das Modell wird, desto weniger gut können wir die Frauen – es sind mehrheitlich Frauen betroffen – unterstützen und bei Bedarf schützen. Wir denken somit pragmatisch. Wir möchten mit diesem Empowerment-Ansatz die Rahmenbedingungen für alle Beteiligten verbessern. Unser Motto: «Faire Bedingungen in der Live-in-Betreuung – gemeinsam gestaltet»

«Eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung gibt es nicht. Das kann eine Person alleine nicht leisten.»Karin van HoltenCo-Leiterin Kompetenzzentrum Partizipative Gesundheitsversorgung

Was sind die Erfolgsfaktoren, damit das Live-In-Modell funktionieren kann?

Voraussetzung ist einerseits, dass alle Akteure einsehen, dass es eine gemeinsame Verantwortung gibt, die gemeinsam gestaltet werden muss. Spitex-Organisationen, die Agenturen, die betreuten Personen, die Angehörigen und die Betreuungspersonen müssen alle zusammenarbeiten, damit es funktionieren kann. Ausserdem braucht es eine Haltungsänderung. Eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, die alle Bedürfnisse abdeckt, gibt es nicht. Das kann eine Person alleine nicht leisten.

Ausserdem braucht es Transparenz. Einerseits darüber, wie die Aufgaben zwischen den Akteuren verteilt werden. Andererseits über die Preisgestaltung. Wie setzen sich die Kosten zusammen und wohin fliesst das Geld? Wir denken, dass maximale Transparenz entscheidend ist. Und schliesslich: Wenn keine verbindlichen Absprachen mit der betreuten Person mehr möglich sind oder die Freizeiten-Regelung nicht gewährleistet werden kann, dann gilt: das Modell ist so nicht (mehr) vertretbar. 

Welche Partner sind im Projekt beteiligt und was versprechen Sie sich von der Mitwirkung durch Praxispartner, wie von Caritas Care?

Seitens der Praxis sind Caritas Care als Non-Profit-Organisation, ein For-Profit Anbieter und neu ProSenectute Zürich Teil des Projekts. Der Spitex-Verband ist ebenfalls involviert. Uns ist es sehr wichtig, dass wir breit aufgestellt sind und alle Meinung und Ansichten ihren Platz finden. Deshalb sind auch weitere Organisationen dabei, wie beispielsweise die Gewerkschaft Unia, der Seniorenrat, Vertreter und Vertreterinnen von Angehörigen und der Betreuungspersonen oder CareInfo. Wir sind in einem ambivalenten Themenfeld tätig und können nicht alle Tücken und Fallgruben vermeiden. Wir möchten die bestmögliche Lösung entwickeln, die mit dem heutigen Wissen möglich ist.

Partnerinnen und Partner von «FairCare@Home»

Amt für Wirtschaft und Arbeit AWA SG, BESA Qsys, Betreuungs-Spezialist, CareInfo, Caritas Schweiz, «Dienst für Pflege und Entwicklung Kanton St. Gallen», Entlastungsdienst Schweiz - Kanton Bern, Evang.-ref. Kirchgemeinde Zürich, Evang.-ref. Kirche des Kantons St. Gallen, Pro Senectute Zürich, Reformiert-Zürich, Schweizerisches Rotes Kreuz, Spitex Bachtel, Spitex Bern, Spitex Burgdorf-Oberburg, Spitex Oberaargau AG, Spitex Ostermundigen, Spitex Sarganserland, Spitex Sarganserland, Spitex Schweiz., Spitex Verband SG|AR|AI, Spitex Zürich, Spitex-Verband Kanton Bern, Seniorenrat SSR, SWICA, Swiss Carers, Unia

Was sind die nächsten Schritte im Projekt «FairCare@Home»?

Wir arbeiten momentan in drei Arbeitsgruppen, um das Modell fit für den Test zu machen. Ein Thema, das uns beschäftigt ist die Einsatzplanung. Es gibt heute kein Instrument, das den Bedarf für Betreuung – so wie wir das aus der Pflege kennen – ermittelt. Es ist wie ein blinder Fleck im System. Es geht darum, ein Instrument zu entwickeln, das die Planung folgender Fragen ermöglicht: Was braucht die Person, die betreut werden soll und in welchem Umfang? Was kann die Live-In-Betreuungsperson leisten? Wie planen wir die Tätigkeiten und wie kontrollieren wir den Zeitaufwand sowie die Qualität?

Unser Ziel ist es, das Modell ab November 2023 für zwölf Monate in der Praxis zu testen und diesen Test wissenschaftlich zu begleiten. Die Evaluation wird die Perspektiven aller involvierter Gruppen berücksichtigen. Verbesserungen sollen fortlaufend stattfinden.

Wurde Ihr Interesse geweckt?

Weitere Informationen zum FairCare@Home Modell finden Sie auf der Webseite FairCare@Home (bfh.ch)

Titelbild: © Alexandra Wey