«Es werden immer noch Tausende Menschen vermisst»
Die verheerenden Erdbeben in Syrien führen zu einer humanitären Katastrophe, rund 8,8 Millionen Menschen sind betroffen. Viele von ihnen sind immer noch obdachlos und können nicht in ihre Häuser zurückkehren, berichtet Wael Darwish. Der Caritas-Verantwortliche sagt, was die Bevölkerung nun am dringendsten braucht.
Trümmer, so weit das Auge reicht. Menschen, die mit blossen Händen verzweifelt nach Verschütteten suchen. Die Bilder von den heftigen Erdbeben vom 6. Februar gingen um die Welt. Mittlerweile ist die Katastrophe weitgehend aus der Berichterstattung verschwunden. Doch die Lage vor Ort ist immer noch prekär, berichtet Wael Darwish.
Als Director Syria Crisis Response leitet er den Einsatz von Caritas Schweiz in Syrien. Im kriegsversehrten Land ist das Hilfswerk bereits seit 2012 tätig. Deshalb konnte Caritas gemeinsam mit den lokalen Partnern Caritas Syrien und dem Hilfswerk GOPA-DERD von der ersten Stunde an Hilfe leisten.
Wael Darwish, in der Schweiz wird häufig nur über die Türkei berichtet. Wie ist die aktuelle Lage in Syrien?
Die Lage ist prekär. Das verheerende Ausmass der Katastrophe wird immer deutlicher. Die Menschen leiden stark an den Folgen des Erdbebens und den anhaltenden Nachbeben. Neben den ungefähr 5'900 Toten und den unzähligen Verletzten werden immer noch Tausende Menschen vermisst. Hunderte sind obdachlos, leben in Notunterkünften oder bei Verwandten und Bekannten. Eine schnelle Rückkehr in ihre Häuser ist nicht absehbar, weil diese entweder zerstört sind oder einzustürzen drohen. Ausserdem haben wir Berichte von Mangelernährung von Kindern erhalten. Damit wächst das Risiko von Krankheiten, zusätzlich zur bereits grassierenden Cholera.
Wie hat Caritas den Menschen in Syrien bisher helfen können?
Gleich am ersten Tag nach dem Erdbeben sind verschiedene Teams in die betroffenen Regionen gefahren. Sie haben abgeklärt, was die Bevölkerung am dringendsten benötigt und verteilten erste Hilfsgüter. Wir konnten also umgehend Nothilfe leisten. So haben wir bisher etwa 3'500 Lebensmittel-, 2'800 Trinkwasser- und 2'400 Hygienepakete verteilt. Hinzu kommen über 1'200 Decken und Matratzen sowie Windeln und Solarlampen. Bisher hat Caritas rund 3'500 Familien geholfen.
In einem Katastrophengebiet zu arbeiten, ist immer sehr schwierig. Wie sind Sie mit der Situation umgegangen?
Das oberste Ziel besteht darin, den Menschen so schnell wie möglich zu helfen, was natürlich Druck auf uns alle vor Ort ausübt. Wir können damit umgehen, weil wir das Gesamtziel im Auge behalten. Wir arbeiten alle mehr als zwölf Stunden am Tag, wissen aber, dass wir danach zu unseren Familien zurückkehren und in unseren Häusern schlafen können. Leider ist dies für viele Erdbebenopfer nicht möglich. Die Tatsache, dass unsere Hilfe das Leben der betroffenen Bevölkerung verändert, motiviert uns.
Was brauchen die Betroffenen in den kommenden Wochen und Monaten?
In erster Linie geht es nun darum, den Menschen wieder ein Zuhause zu geben. Wir helfen ihnen beim Mieten von Unterkünften oder bei der Reparatur ihrer Häuser. Wir arbeiten auch an der Instandsetzung diverser Schulen. Damit wollen wir sicherstellen, dass die Kinder und Jugendlichen wieder einen sicheren Zugang zu Bildung erhalten. Denn viele von ihnen bleiben den Schulen immer noch fern, weil sie dem Zustand der Gebäude nicht trauen oder weil die Familien in andere Regionen ziehen mussten. Um den Menschen gezielt helfen zu können, werden wir sie mit Bargeld-Soforthilfen unterstützen. So können sie individuell und in Würde selbst entscheiden, was sie am dringendsten benötigen. Gleichzeitig wird die lokale Wirtschaft gestärkt. Ausserdem bieten wir psychologische Unterstützung an. Denn viele Betroffene leiden an Angstzuständen, Albträumen und Schlaflosigkeit. Und gerade Kinder fürchten sich vor lauten Geräuschen.
Wie lange werden die Menschen in Syrien noch auf Hilfe angewiesen sein?
Die Bewältigung der materiellen Schäden wird Jahre dauern. Ganze Existenzen müssen wieder aufgebaut werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir alle als humanitäre Gemeinschaft, als Organisationen oder als private Spenderinnen und Spender die Menschen in Syrien nicht vergessen – auch in einem oder in fünf Jahren nicht.
Geschrieben von Niels Jost
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Titelbild: Hygiene-Artikel und Lebensmittelkörbe sind Teil der Hilfe vor Ort. © GOPA