

Eine zweite Chance für Kleidung – und f ür Menschen
In der Caritas-Kleiderzentrale werden jährlich Tausende gespendete Hosen, Blusen, T-Shirts und andere Textilien gesammelt, sortiert und zur Wiederverwendung aufbereitet. Die Kleider kommen Menschen zugute, die wenig Geld zum Leben haben. Doch die Kleiderzentrale ist noch vieles mehr.
Emina Nikolić* läuft zielstrebig durch die Regale. Die rüstige Frau weiss genau, wo sie fündig wird. «Hinten links», sagt sie, «sind die besten Kleidungsstücke.»
Nikolić ist Stammkundin in der Caritas-Kleiderzentrale in Waldibrücke bei Luzern. Die 47-Jährige schätzt die grosse Auswahl an Kleidung, Schuhen und Bettwäsche – und vor allem die tiefen Preise. Da ihr Lohn als Reinigungskraft klein ist, achtet sie genau darauf, wo sie einkauft, um ihr knappes Budget nicht zu strapazieren.
Damit ist Emina Nikolić nicht allein: Vom vergünstigten Angebot dürfen Menschen profitieren, die unter oder knapp über dem Existenzminimum leben, Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen beziehen sowie asylsuchende und geflüchtete Personen. Möglich machen es die Spendenbereitschaft der Bevölkerung, eine ausgeklügelte Logistik und viel Herzblut. Doch von vorne.
Jeden Tag kommen Berge an Kleidern an
Es ist noch frühmorgens, als Bestoon Bzaini seinen Lieferwagen zur Kleiderzentrale manövriert. Rückwärts fährt er punktgenau zur Rampe und beginnt, den Wagen zu entladen. Dieser ist bis zur Decke gefüllt mit Säcken voller Hosen, Pullover, T-Shirts oder Schuhe. Bzaini und die anderen Chauffeure holen die Textilien mehrmals in der Woche bei rund 50 Sammelcontainern der Caritas in der Zentralschweiz und in Zürich ab.

Die Kleider lädt der 48-Jährige in grosse Karren um. «Manche Leute werfen nasse Sachen oder sogar Müll in den Sammelcontainer», sagt er und schüttelt den Kopf. «Das müssen wir dann entsorgen.» Der Grossteil sei aber einwandfrei, erklärt er, während er einen vollen Karren ins Innere bugsiert.
«Wenn unsere Kundinnen und Kunden ein modisches Seconhandteil finden, verleiht das Würde.»
Bestoon Bzaini kennt das verwinkelte Gebäude in- und auswendig. Als junger Mann floh er vom Irak in die Schweiz und sammelte als Asylsuchender in der Kleiderzentrale erste Arbeitserfahrung. Schon in den 1970er-Jahren bot die Caritas hier ein Beschäftigungsprogramm für Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Stelle finden. Heute sind es im Durchschnitt zirka acht Personen, die so für ein paar Wochen oder Monate in Waldibrücke arbeiten und die 20 Festangestellten und weiteren Freiwilligen unterstützen.
Bzaini hat die Chance gepackt und eine dauerhafte Anstellung erhalten. «Es war nicht leicht», blickt er zurück. «Alles war neu. Doch ich erhielt einen Lohn und konnte eigenständig werden. Das bedeutet mir viel.» Bzaini ist dem Unternehmen seither treu geblieben. Mehr noch: In der Kleiderzentrale hat er seine Frau kennengelernt. «Ein glücklicher Zufall.»
Drei Viertel der Textilien bleiben in der Schweiz
Nach kurzer Lagerung kommen die angelieferten Textilien ins Sortierwerk. Hier ist alles Handarbeit: Säcke bereitlegen, aufschneiden, Kleidungsstück begutachten, nach festgelegten Kriterien entscheiden, ob es verwendet werden kann oder geflickt werden muss, zuordnen – Hosen zu Hosen, Hemden zu Hemden, Hoodies zu Hoodies. Und das im Sekundentakt.
«Ein geübtes Auge und Ausdauer sind wichtig», sagt Sortiererin Dinesha Murugavel. «Wir müssen achtsam sein, denn die Qualität nimmt tendenziell ab.» Früher bestanden die Kleider aus 100 Prozent Baumwolle, heute enthalten sie oft minderwertige Materialien. Daher kontrolliert Murugavel jedes Stück genau – trotz der grossen Menge. Das ist letztlich auch für die Umwelt gut: «Was wir hier retten, muss nicht neu produziert werden», sagt sie und nimmt die nächste Jacke unter die Lupe.

Dinesha Murugavel hat eine ähnliche Lebensgeschichte wie Bestoon Bzaini: Als junge Frau flüchtete sie von Sri Lanka in die Schweiz und fand via Beschäftigungsprogramm zur Kleiderzentrale. Mittlerweile arbeitet die 39-Jährige über zwei Jahrzehnte in Waldibrücke – ihre Sorgfalt hat dabei aber nie nachgelassen. Immer wieder findet sie Ausweise, Schmuck oder Bargeld, sei es in Hosentaschen, Schuhen oder versteckt in einem Seitenfach. Kann die Besitzerin oder der Besitzer ausfindig gemacht werden, wird die Ware zurückgegeben. Sonst wird der Fund als Spende verbucht.
«In der Kleiderzentrale erhielt ich einen Lohn und konnte eigeständig werden. Das bedeutet mir viel.»
Pro Jahr verarbeiten Dinesha Murugavel und ihre Kolleginnen und Kollegen mehrere hundert Tonnen Textilien, 2024 waren es 874 Tonnen. Knapp drei Viertel werden in der Schweiz wiederverwendet, etwa von Kundinnen und Kunden der Kleiderzentrale und der Secondhandläden «carla by Caritas», von Asylsuchenden, welche die Caritas im Auftrag des Kantons Luzern einkleidet, sowie von der Winterhilfe. Nur was hierzulande keinen Absatz findet, wird nach Polen und in den Irak exportiert oder zu Putzlappen verarbeitet.
Neue Kleidung stärkt das Selbstwertgefühl
Dass der Grossteil der Kleidung in der Schweiz bleibt, ist nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern auch bitter nötig. Jedes Jahr kaufen in der Kleiderzentrale über 15 000 Personen ein, die zu wenig Geld zum Leben haben – Tendenz steigend. Viele von ihnen kennt Monica Stocker. Sie ist zuständig für den Verkauf, das Lager und die Beratung im Laden. «Wir haben eine grosse Stammkundschaft», sagt sie. «Manche stöbern lieber allein, andere schätzen meine Unterstützung.»
Damit meint Stocker nicht nur die Stil-Beratung. Viele Kundinnen und Kunden vertrauen der 63-Jährigen ihre Sorgen an, erzählen von Schicksalsschlägen, Flucht, prekären Arbeitsverhältnissen oder ständigem Verzicht. «Diese Geschichten berühren mich noch immer – auch nach 35 Jahren Tätigkeit in der Kleiderzentrale», sagt Stocker.
Was sie motiviert, sind Momente, wenn eine neue Hose oder Bluse etwas in den Menschen auslöst. Sie ist überzeugt: «Wer ein modisches, hochwertiges Secondhandteil findet, bekommt mehr als nur Kleidung – es ist ein Stück Normalität. Es verleiht Würde und stärkt das Selbstwertgefühl.»

Eine Herausforderung sei es, ein Sortiment zusammenzustellen, das allen Bedürfnissen entspricht. So wird etwa verhältnismässig wenig Herren- und Kinderkleidung gespendet. «Männer kaufen womöglich weniger Kleider als Frauen und tragen sie länger, wodurch sie sich nicht zur Wiederverwertung eignen», mutmasst Monica Stocker.
Gerade deshalb ist sie froh um jedes gespendete Stück. Jede und jeder Einzelne könne einen Beitrag leisten: «Die Kleidersammlung gibt der Bevölkerung die Möglichkeit, andere Menschen auf niederschwellige Art und Weise direkt zu unterstützen», bringt es Stocker auf den Punkt. Sie ist überzeugt: «Armutsbekämpfung beginnt im Kleinen.»
Was dieses Kleine bewirken kann, zeigt das Beispiel von Emina Nikolic, der Stammkundin in der Kleiderzentrale. Sie selbst verzichtet wegen ihres tiefen Einkommens auf vieles. Ihren drei Kindern aber möchte sie ein normales Leben bieten. Und tatsächlich, an diesem Vormittag ist sie fündig geworden: ein Pullover für ihren jüngeren Sohn und ein Bikini für ihre Tochter. «Das wünschen sie sich schon lange. Sie werden sich freuen.»
*Name geändert
Die Kleiderzentrale ist längst nicht das einzige Caritas-Projekt im Bereich Secondhand und Arbeitsintegration. 12 der 16 regionalen Caritas-Organisationen führen eigene Läden oder Brockis.
Ein besonderes Konzept verfolgt Caritas Genf mit der «Recyclerie». An sieben Standorten gibt es Kleidung, Sportartikel, Möbel, Geschirr und sogar Haushalts- sowie Elektrogeräte. Die Läden stehen allen Personen offen – unabhängig ihres Einkommens. «Das ist uns ein grosses Anliegen», sagt Verkaufsleiterin Camille Kunz. «Bei uns sollen sich alle wohl und dazugehörig fühlen.» Damit leistet die «Recyclerie» einen Beitrag zur sozialen Inklusion.
Die Nachfrage in Genf ist gross: Jeden Tag werden rund 1000 Artikel verkauft. Die Waren stammen von der Bevölkerung, die sie entweder direkt abgibt oder durch Caritas-Mitarbeitende abholen lässt.
Herzstück der «Recyclerie» ist die «Upcyclerie». Hier entsteht Neues aus Gebrauchtem, das sonst entsorgt würde: aus alten Skiern wird ein Stuhl, aus Vorhängen schicke Handtaschen oder aus Lastwagenplanen stylische Schlüsselanhänger. «Wir wollen zeigen, dass eine Kreislaufwirtschaft möglich ist», sagt Camille Kunz. Mehr noch: In der «Upcyclerie» arbeiten Personen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Stelle finden. Kunz: «Wir sind rundum nachhaltig – im sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Sinn.»
Weitere Informationen
Titelbild: «Herren-T-Shirts sind immer begehrt»: Monica Stocker kennt die Wünsche ihrer Kundinnen und Kunden – sowie ihre Lebensgeschichten. © Annette Boutellier