Ich möchte erst die andere Geschichte fertigmachen und ich gestehe, es fällt mir schwer, mich auf die Frau mir gegenüber zu konzentrieren. Hiba ist in einer Weise präsent, wie ich das kaum je bei einer 11-jährigen gesehen habe. Sie posiert. Sie befiehlt. Mir wird erklärt, sie sei geistig zurückgeblieben. Aber ich bin überzeugt, sie ist blitzgescheit und gefangen in ihrer Welt, in der sie sich als Taubstumme nicht mitteilen kann, weil ihr niemand eine adäquate Sprache beigebracht hat.
Der Vater sitzt in Syrien im Gefängnis, die Mutter hat vier Kinder, um die sie sich kümmern muss, da gibt es weder Zeit noch Geld für eine Sonderbehandlung der Familiennachzüglerin. Hiba wird über ihre Erlebnisse in Tal Kalakh nicht sprechen können. Sie wird nie erzählen können, wie die Flucht aus Homs für sie war, im Rollstuhl, ohne zu hören – wohl aber zu sehen und zu verstehen – was um sie herum geschieht. Sie wird ihre Verletzungen, ihre Ängste, ihre Traumata nicht aufarbeiten können. Sie wird in ihrem Rollstuhl sitzen, alles mitbekommen, stumm analysieren – und mit niemandem darüber kommunizieren können.
Hiba hatte in Syrien keine Chance und Hiba wird auch im Libanon keine Chance haben. Ich würde sie am liebsten mitnehmen. Aber ich gehe ohne sie und alles was ich habe, sind die Fotos von ihr. Und ihr eindrucksvoller Blick in meiner Erinnerung.
Text: Livia Leykauf-Rota ist journalistische Mitarbeiterin von Caritas Schweiz und derzeit im Libanon unterwegs. / Bild: Livia Leykauf-Rota