Etwa ein halbes Jahr nach dem Verschwinden ihres Mannes war auch das letzte Ersparte von Safaa al-Abdallah* (27) aus Aleppo aufgebraucht. Safaas Mann, ein Taxifahrer, war eines Tages von der Arbeit nicht mehr nach Hause gekommen. Und weil Safaa keine Familie hat, die ihr unter die Arme greifen kann, musste sie möglichst rasch einen Job finden – ohne Schulabschluss und in einem kriegsbeutelten Land, in dem die Wirtschaft zusammengebrochen ist. Über die Hälfte der Menschen sind arbeitslos. In der Schlange vor einer Bäckerei fragte sie auf gut Glück die Frau hinter ihr, ob sie etwas wisse. Tatsächlich konnte ihr die Frau Arbeit als Näherin in einem Atelier vermitteln.
Dort arbeitet sie nun sechs Tage die Woche täglich 11 Stunden. Von ihrem Lohn leben sie und ihre Kinder Yasmin (10), Omar (8), Hamoud (7), Majid (5) und Youssef (4). Yasmin passt nach der Schule auf ihre Brüder auf. Zwei von ihnen leiden unter Kalziummangel, Omar hat eine Bluterkrankung. Geld für eine Behandlung hat Safaa nicht.
Quälende Fragen, fehlender Schutz
Seit ihr Mann verschwunden ist, quälen Safaa die Fragen. Was ist passiert? Sie geht davon aus, dass er gekidnappt wurde. Seit der Krieg ausgebrochen ist, kommt das immer wieder vor. «Oder hat er sich freiwillig einer bewaffneten Gruppe angeschlossen?» Eigentlich kann sie sich das nicht vorstellen, denn ihr Mann liebte seine Kinder und verbrachte viel Zeit mit ihnen. Aber die Zweifel nagen weiter.
Eine Woche vor unserem Besuch wurde ihr die Gasflasche gestohlen. Jemand muss in die Wohnung eingedrungen sein und den Gasschlauch durchgeschnitten haben. «Alle im Haus wissen, dass ich keinen Mann habe und verletzbar bin», sagt Safaa. Ab sofort schliesst sie auch die Einzelzimmer ihrer winzigen Wohnung ab.
«Wir haben nur noch euch und Gott»
Das Schicksal von Safaa Al-Abdallah ist kein Einzelfall. Allein in Ostaleppo bestehen ungefähr 70 Prozent der Haushalte aus Familien mit mehreren Kindern, in denen eine Frau das Familienoberhaupt ist. Die meisten Männer zwischen 18 und 50 Jahren sind umgekommen, im Gefängnis oder noch irgendwo am Kampf beteiligt. So müssen die Frauen zusätzlich zu Pflichten wie Haushalt und der Familienarbeit weitere Aufgaben übernehmen, die traditionellerweise in den Verantwortungsbereich der Männer fallen. Dazu gehört besonders die Erwerbsarbeit.
Viele Frauen haben uns erzählt, wie schwer diese doppelte Last und die alleinige Verantwortung auf ihren Schultern lastet. Gerade in den ärmsten Bevölkerungsgruppen sind sie häufig in keinster Weise auf diese zusätzlichen Aufgaben vorbereitet. Vielen fehlt auch ein Schulabschluss und damit die Grundvoraussetzung für eine gute Arbeitsstelle.
Auch Safaa steht die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben. Als wir aufbrechen, kommen ihr die Tränen. «Bitte vergesst uns nicht», sagt sie, «wir haben nur noch euch und Gott.» Von der Caritas erhält Safaa Lebensmittel wie Reis, Öl, Konserven oder Pasta. Und so kämpft sie weiter - für ihre Kinder.
*alle Namen geändert
Text: Anna Haselbach, Caritas Schweiz
Bilder: Alexandra Wey