Viele Menschen – darunter auch Politiker – sind der Ansicht, dass es in der reichen Schweiz keine Armut gibt. Wie reagieren Sie, wenn Sie das hören?
Armut in der Schweiz ist eine Realität. Sie wird gemessen durch das Bundesamt für Statistik. Wer sich nahe bei den Menschen bewegt, kann diese Realität nicht ausblenden. Armut wird sozialpolitisch die zentrale Herausforderung der Schweiz in den nächsten Jahren sein. Rasche Veränderungen werden immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft drängen.
In Genf standen im Frühjahr Tausende von Menschen stundenlang Schlange bei einer Essensabgabe. Die Bilder haben schockiert. Wie tiefgreifend ist die soziale Veränderung, die die Corona-Krise ausgelöst hat?
Bilder, die so unmittelbar sichtbar machen, dass es Menschen am Geld für das Alltägliche fehlt, beschreiben nur einen kleinen Teil der Auswirkungen von Corona. Was wir jetzt erleben, geht tiefer: Familien haben ihren Zuverdienst mit einem Zweitjob am Abend oder am Wochenende verloren, mit dem sie sich zuvor gerade noch über Wasser halten konnten. Personen, die Kurzarbeitsentschädigung erhalten – was bedeutet, dass sie 20 Prozent ihres Einkommens verlieren –, versuchen sich gegenwärtig noch mit mühsam Erspartem durchzubringen. Dies ist ein Prozess, der die prekäre Situation über die nächsten zwei Jahre verschärfen wird: Die Arbeitslosigkeit wird weiter steigen, mehr Menschen werden sich verschulden und bei der Sozialhilfe landen.
In der Sendung «Matinale» auf Radio Suisse Romande sagten Sie kürzlich: Die Politik hat in der Corona-Krise die Armutsbetroffenen schlicht und einfach vergessen. Was fehlt im Hilfspaket, das der Bundesrat gesprochen hat?
Wir haben die Bundespolitik bereits im April dazu aufgerufen, Familien und Einzelpersonen, deren Einkommen einbricht, mit Direktzahlungen zu unterstützten. Dafür haben wir eine Milliarde Franken gefordert, was angesichts eines Pakets für Corona-Massnahmen von über 30 Milliarden nicht sehr viel ist.
Ein grosser Teil der Politik ist von den sozialen Realitäten der Schweiz weit entfernt.
Das Erschreckende ist, dass die Armutsbetroffenen und vor allem die Menschen an der Armutsgrenze einmal mehr vergessen gehen. Das Problem wird erst dann erkannt, wenn sie bei der Sozialhilfe sind, sie stigmatisiert werden und ihr Erspartes vollkommen aufgezehrt ist. Das zeigt, wie weit ein grosser Teil der Politik von den sozialen Realitäten der Schweiz entfernt ist.
Als Sie im Jahr 2008 Direktor der Caritas Schweiz wurden, erschütterte die Finanzkrise die Welt. Kurz danach rief die Caritas dazu auf, die Armut in der Schweiz bis 2020 zu halbieren. Davon sind wir weit entfernt. Was ist da schiefgelaufen?
Mit der Caritas-Kampagne «Armut halbieren» ist es gelungen, Armut zum Thema zu machen und medial zu verankern. Das war ein grosser Erfolg. Vor diesem Hintergrund ist es nun möglich, systematisch am Thema Armut zu arbeiten und politische Instrumente zu entwickeln, die Armut reduzieren. Dazu gehören Ergänzungsleistungen für Familien, existenzsichernde Löhne, Frühförderung, Integration und Weiterbildung, um nur ein paar Ansätze zu nennen. Armut ist politisch ein Querschnittsthema, das viele Bereiche betrifft. Dies macht es möglich, dass Teile der Politik bis heute versuchen, Armut auszublenden und sie als individuelles Problem herunterzuspielen.
Caritas Schweiz bekämpft Armut weltweit. Während die einen finden, man sollte besser hierzulande helfen, sind andere der Ansicht, die wirkliche Armut sei nur im Süden zu finden. Wie gehört dies für Sie zusammen?
Armut kennt keine geografischen Grenzen. Sie ist global. Was Armut ist, definiert sich immer in Relation zu den andern, zum Umfeld, in dem die einzelne Person sich bewegt. Deshalb gibt es verschiedene Formen: Armut in der Schweiz ist eine andere als in Haiti, Mali, Kambodscha, Russland oder den USA. Die Folgen sind aber immer die gleichen, nämlich ausgeschlossen zu sein aus der Gesellschaft, keine Perspektive und keine Entwicklungsmöglichkeiten zu haben. In vielen Ländern bedeutet Armut auch Hunger. Zurzeit nimmt der Hunger in der Welt wieder zu.